Der ausgezeichnete US-Regisseur Ben Russell und seine Darstellerin Servan Decle kamen mit Palästinensertuch.
Der ausgezeichnete US-Regisseur Ben Russell und seine Darstellerin Servan Decle kamen mit Palästinensertuch.
AFP/POOL/NADJA WOHLLEBEN

Dass die Berlinale ein politisches Festival ist, verkündet vor allem die Berlinale gern. Seit der Verleihung der Preise der 74. Ausgabe am Samstagabend sind die Filmfestspiele allerdings auf eine Weise in den politischen Fokus gerückt, die weit über Marketing hinausgeht. Von einem "Antisemitismusskandal" ist die Rede, in den sozialen Medien wird Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Die Grünen) zum Rücktritt aufgefordert, und der Hashtag #DefundBerlinale macht die Runde. Roth kündigte am Montag an, die Vorkommnisse "aufarbeiten" zu wollen, gemeinsam mit dem Berliner Senat und dem Regierenden Bürgermeister Kai Wegner.

Was ist passiert? Der ganze Abend stand im Zeichen kleiner und bald größerer Manifestationen, die sich auf den Nahostkonflikt beziehungsweise auf den Krieg in Gaza bezogen – schon hier ist die Wahl der Begriffe tendenziell eine Parteinahme. Mariette Rissenbeek, gemeinsam mit Carlo Chatrian die Leiterin der Berlinale, definierte das Festival zu Beginn als einen "Raum, in dem Hass keinen Platz hat" – das war auch noch einmal als Hinweis darauf zu verstehen, dass zur Eröffnung Politiker der AfD ausgeladen worden waren. Rissenbeek war die Einzige, die an dem Abend die Hamas erwähnte, also die Terrororganisation, die am 7. Oktober Israel angriff, ein Massaker an mehr als 1200 Menschen verübte und noch immer über 100 Geiseln gefangen hält.

"Es gibt keinen gerechten Krieg"

Als am Samstag dann eine Jury nach der anderen die Bühne betrat, wurden die Botschaften zunehmend deutlicher. "Ceasefire now" war die geläufigste Formulierung, auch bei den drei Frauen, die das beste Debüt auszeichneten – wobei es dabei die jüdische US-Filmemacherin Eliza Hittman war, die eine erste konkrete Botschaft verkündete: "Es gibt keinen gerechten Krieg."

Das Dreiergespann, das über den besten Dokumentarfilm entschieden hatte, nützte die Gala zu einer langen Kundgebung: Abbas Fahdel, Thomas Heise und Verena Paravel wählten No Other Land, einen Kollektivfilm über ein Dorf im Westjordanland, aus dem die palästinensischen Bewohner immer wieder vertrieben werden. Die zwei federführenden Filmemacher Basel Adra und Yuval Abraham waren nach Berlin gekommen. Es war der Letztere, der darauf hinwies, dass er als Bürger des Staates Israel ganz andere Rechte hat als der Palästinenser Adra.

Mit Palästinensertuch

Es war dann auch Yuval Abraham, der von "Apartheid" sprach, nachdem zuvor schon Verena Paravel die Besatzung Israels im Westjordanland als "abject" ("abscheulich") bezeichnet hatte. Claudia Roth und Kai Wegner (der wenig Englisch spricht) applaudierten in dem Moment einem israelischen Juden, der einen der kontroversen Schlüsselbegriffe für die Einschätzung der Politik Israels verwendete. Diese Reaktion wird ihnen auf X mit zuspitzenden Fotomontagen vorgeworfen.

Das zweite Reizwort nach "Apartheid" kam vom Amerikaner Ben Russell, der mit Guillaume Cailleau den Dokumentarfilm Direct Action über linksradikale Gruppen in Frankreich gemacht hat. Er wurde als bester Film in der Sektion Encounters ausgezeichnet, der Abend der Preise war zu dem Zeitpunkt also noch weit vom Goldenen Bären entfernt. Russell betrat die Bühne mit einem Palästinensertuch auf den Schultern und sprach vor seinem Abgang, nur undeutlich hörbar, noch vom "Genozid" in Gaza.

"I stand for Palestine"

Die Gewinnerin des Goldenen Bären, Mati Diop aus Frankreich, schloss ihre Rede mit einem "I stand for Palestine" – zuvor hatte sie auch noch auf den Kampf um die Demokratie im Senegal hingewiesen, ein Detail, das nun in den Vorwürfen gegen die Berlinale keine Rolle spielt, was aber den Vorwurf einer einseitigen deutschen Geschichtspolitik, wie er international häufig erhoben wird, im Grunde bestärkt.

War das Hass, was bei der Preisverleihung zu hören war? War das antisemitisch? In der sehr strikten Lesart, die in Deutschland als offizielle Politik vorgegeben wird, trifft das zu. De facto aber bekam die deutsche Öffentlichkeit am Samstag vorgeführt, wie bestimmte Teile des Weltkinos derzeit über den Staat Israel und dessen Politik denken. Für eine politische Auseinandersetzung war an diesem Abend kein Platz. Sie fand nur in Form von Parolen statt.

Für die Berlinale geben diese "individuellen Meinungen" in "keiner Form die Haltung des Festivals wieder". "Die Berlinale versteht sich jedoch als Plattform für einen offenen kultur- und länderübergreifenden Dialog. Wir müssen daher auch Meinungen und Statements aushalten, die unseren eigenen Meinungen widersprechen, solange diese Stellungnahmen nicht Menschen oder Menschengruppen rassistisch oder anderweitig diskriminieren oder gesetzliche Grenzen überschreiten. Es wäre aus unserer Sicht inhaltlich angemessen gewesen, wenn sich auch die Preisträger*innen und Gäste auf der Preisverleihung zu dieser Frage differenzierter geäußert hätten", teilte Rissenbeek am Montagabend in einem Pressestatement mit.

Inzwischen haben sich auch der deutsche Kanzler Olaf Scholz ("dass eine derart einseitige Positionierung so nicht stehen gelassen werden kann") und Israels Botschafter in Berlin ("Unter dem Deckmantel der Rede- und Kunstfreiheit wird antisemitische Rhetorik zelebriert") gemeldet. Ein "Free Palestine – From the River to the Sea"-Post auf einer seiner Instagram-Seiten am Sonntag schrieb die Berlinale Hackern zu. Er wurde schnell wieder gelöscht, eine Strafanzeige gegen unbekannt wurde gestellt. (siehe Post)

Man kann nur hoffen, dass die von Claudia Roth angekündigte "Aufarbeitung" über dieses Niveau hinausgeht. Sonst steckt die Berlinale demnächst in der gleichen Sackgasse wie die Documenta. (Bert Rebhandl, 27.2.2024)