Stefan Sagmeister hat für die Rolling Stones gearbeitet, für Lou Reed, HBO, das Guggenheim-Museum und viele andere. Er gewann neben zwei Grammys praktisch jeden bedeutenden Designpreis, seine Arbeiten sind in Sammlungen wie dem Museum of Modern Art in New York oder dem Art Institute of Chicago zu finden. Sagmeister lehrt in den Abschlussklassen der School of Visual Art in New York und ist als Vortragender auf dem ganzen Globus unterwegs. In Zeiten, in denen sich schlechte Nachrichten häufen, gelingt es ihm, Licht am Ende des Tunnels zu finden.

In seinem Buch kombiniert er Design, Kunst, Geschichte und Statistik zu einer neuen Sprache von Zahlen, anhand derer er verschiedene Entwicklungen der Menschheit visualisiert. In Form von zeitgenössischen Eingriffen in historische Gemälde zeigt er, dass es früher mitnichten besser war. Sagmeister sieht es als Kern seiner Arbeit als Designer, komplexe Themen zu hinterfragen und sie zu verknüpfen, um sie einem breiten Publikum zugänglicher zu machen.

Designer Stefan Sagmeister Interview
Stefan Sagmeister glaubt, dass es heute besser als früher ist und in 100 Jahren noch besser sein wird.
Foto: Henry Leutwyler

STANDARD: Herr Sagmeister, wo erwische ich Sie gerade?

Sagmeister: Ich sitze brav bei der Arbeit im Studio in New York. Ich bin gerade dabei, eine Ausstellung zu gestalten, die im Herbst in Málaga eröffnet wird.

STANDARD: Dann lassen Sie mich Sie ein wenig ablenken. Sie beschäftigten sich in den letzten Jahren mit großen Themen wie "Glück" oder "Schönheit". In Ihrem neuesten Werk geht es um die Frage, ob früher alles besser war. Gibt es zwischen diesen drei Themen einen Zusammenhang?

Sagmeister: Alle drei sind positiv besetzt, und ich neige zum Optimismus. Optimismus macht ja auch rationell betrachtet Sinn: Wenn ich ein Problem habe, bei dem meine Lösungschancen 50/50 sind, dann kann ich diese Chancen verbessern, auf 60/40 oder vielleicht auf 70/30, wenn ich die Sache mit positivem Elan angehe. In einer angespannten oder depressiven Phase bin ich für meine Freunde und Familie nicht von großem Nutzen. Ich bin hilfsbereiter und effektiver für meine Umwelt, wenn es mir gutgeht.

STANDARD: Was raten Sie Menschen, die Ihren Optimismus nicht teilen und Ihre Behauptung, dass heute alles besser sei, ganz und gar nicht nachvollziehen können?

Sagmeister: Ich kann mir nicht vorstellen, dass Pessimisten auf meinen Rat warten. Ich glaube nicht einmal, dass ein richtiger Pessimist dieses Interview weiterlesen wird. Ich selbst bin davon überzeugt, dass es heute besser ist als vor 100 Jahren, und dass es vor 100 Jahren besser war als vor 200 Jahren. Und so glaube ich auch, dass es in 100 Jahren besser sein wird als heute.

STANDARD: Warum geht es uns denn heute besser als ­damals?

Sagmeister: Die allermeisten Menschen, einige Zyniker vielleicht ausgenommen, sind sich darüber einig, dass es besser ist, am Leben zu sein, als tot auf dem Friedhof zu liegen. Es ist angenehmer, gesund zu sein als krank. Wir haben lieber etwas zu essen, als dass wir hungern. Wir leben lieber in einer Demokratie als in einer Diktatur, lieber im Frieden als im Krieg. Wir sind lieber gebildet als ignorant. Alle diese Dinge können genau gemessen werden. Und glücklicherweise wurden alle diese Dinge gemessen, über einen Zeitraum von 200 Jahren! Es gibt ausgezeichnete Zahlen von vertrauenswürdigen Institutionen, die klar belegen, dass sich diese fundamentalen Werte eindeutig verbessert haben.

STANDARD: Könnten Sie vielleicht auch ein Beispiel aus dem Alltag nennen?

Sagmeister: Ich erinnere mich gut an das schlechte Essen in Vorarlberg, damals in den 70er-Jahren. In den Gasthäusern gab es fettige Schnitzel mit säuerlichem Kartoffelsalat. Hundert Jahre davor überhaupt nur Grießbrei und Kartoffeln. Keine Orangen, kaum Früchte, wenig Frisches, weil es auch keine Kühlschränke gab. Heute wird in jedem Landgasthaus im Bregenzerwald Köstliches geboten.

STANDARD: Die im Buch zu sehenden, von Ihnen bearbeiteten Darstellungen zeigen ebenso Statistiken von der Apfelernte zwischen 1962 und 2017 wie Entwicklungen der Kindersterblichkeit zwischen 1870 und 2020. Gibt es eine Statistik, die Ihnen besonders am Herzen liegt?

Sagmeister: Ein beeindruckender Vergleich ist die Tatsache, dass die durchschnittliche Kalorieneinnahme eines Menschen im Frankreich des 18. Jahrhunderts gleich hoch war wie in Äthiopien während der 80er-Jahre, als Äthiopien das unterernährteste Land der Welt war.

STANDARD: Warum beschäftigt sich ein Designer überhaupt mit diesen Fragen?

Sagmeister: Ich verbrachte einige Monate als Designer "in Residence" an der Amerikanischen Akademie in Rom. Neben der Arbeit im Studio gab es ein tägliches Abendessen mit animierten Diskussionen unter den 70 Gästen. An einem Abend saß ich neben einem intelligenten Rechtsanwalt, der mir erzählte, dass die derzeitige Situation in Polen, in der Türkei und in Brasilien das Ende der modernen Demokratie bedeute.

STANDARD: Und?

Sagmeister: Am gleichen Abend habe ich dann noch recherchiert. Ich fragte mich, wann denn die moderne Demokratie überhaupt begonnen hat. Es stellte sich heraus, dass es vor 200 Jahren ein einziges demokratisches Land gab, die USA. Vor 100 Jahren waren es schon 16 ,und heute anerkennen die Vereinten Nationen 86 Länder als demokratisch. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit leben mehr als die Hälfte aller Menschen in einem demokratischen System. Mein gutausgebildeter Rechtsanwalt hatte also keine Ahnung von der Welt, in der er lebt.

STANDARD: Wie ging es dann weiter?

Sagmeister: Weil viele meiner Freunde die Situation ähnlich betrachten wie besagter Jurist, dachte ich mir, das Ganze wäre ein interessantes Betätigungsfeld für einen Kommunikationsdesigner.

Designer Stefan Sagmeister Interview
"Woman II" zeigt den prozentuellen Anteil der Länder mit mindestens einem weiblichen Parlamentsmitglied zwischen 1920 und 2020: 1920: zwei Prozent (violetter Kreis), 1970: 78 Prozent (gelber Kreis) und 2020: 98 Prozent (blauer Kreis).
Foto: Sagmeister Inc.

STANDARD: Es geht in Ihrem Buch aber nicht nur um Daten.

Sagmeister: Nein, ich beziehe mich auch auf persönliche Geschichten: Meinen Ururgroßeltern Johanna und Jacob Sagmeister geschah das allerschlimmste Leid, das Eltern passieren kann – der Tod eines Kindes. Diese Katastrophe mussten Johanna und Jacob gleich sechsmal mitmachen, sechs ihrer Kinder haben das Erwachsenenalter nicht erreicht. Aber die beiden waren nicht vom Pech verflucht, ihre Situation war für die Zeit normal. Fast die Hälfte aller Kinder starben.

STANDARD: Viele Menschen erfahren ungeheures Leid. Was würden die zu Ihrem Buchtitel "Heute ist besser" sagen?

Sagmeister: Mir ist klar, dass der Titel für viele eine Provokation bedeutet. Wer gerade von einem Erdrutsch verschüttet wurde, wird in der Tatsache, dass heute weniger Menschen in Naturkatastrophen umkommen als vor 100 Jahren, wenig Trost finden.

STANDARD: Wie sieht es mit dem Krieg in der Ukraine, dem Krieg in Nahost und vielen anderen Krisenherden aus? Eine Wiederwahl von Trump ist alles andere als auszuschließen, und da gibt es noch viel mehr Besorgniserregendes. Wie wirkt sich all das auf Ihr Gemüt aus? Sehen Sie die Entwicklung durch die Erkenntnis Ihrer Arbeit entspannter?

Sagmeister: Ich habe vor einigen Wochen den Vortrag "Heute ist besser" in Lwiw in der Ukraine gehalten. Zu meiner Überraschung waren die Menschen dort für diese Nachricht so offen, dass wir jetzt mit der Planung einer Ausstellung in Kiew beginnen. Was Trump betrifft, so glaube ich, dass er trotz der Dominanz innerhalb der eigenen Partei in den Vereinigten Staaten nicht mehr mehrheitsfähig ist.

STANDARD: Lassen Sie uns zurückschauen: Manche Pro­bleme haben vor 200 Jahren noch gar nicht existiert.

Sagmeister: Das ist richtig, denken wir an die Klimakatastrophe, das Aussterben von Tieren. Ich glaube allerdings, dass sich diese Probleme effektiver bekämpfen lassen, wenn uns klar wird, dass wir in einigen Bereichen auch schon etwas weitergebracht haben. Verzweiflung führt nicht zu Tatendrang, sie wirkt lähmend. Zu den erfolgreichsten sozialen Veränderungen der letzten Jahre gehören die weltweiten Nichtraucherkampagnen, die in vielen Ländern die Anzahl der Raucher halbieren konnten. Dieses Resultat wurde mit positivem und negativem Ansporn erreicht, mit dem Zuckerbrot und der Peitsche. Derzeit liefern sowohl die traditionellen Medien als auch die sozialen Medien hauptsächlich Negatives, also sehr viel Peitsche. Ich serviere hie und da einen kleinen Bissen Zuckerbrot.

Designer Stefan Sagmeister Interview
"In the kitchen" zeigt den prozentuellen Anteil der Menschen in den USA, die zwischen 1990 und 2010 die Meinung vertraten, dass Frauen zu ihrer traditionellen Rolle in der Gesellschaft zurückkehren sollten. 2010: 28 Prozent (rotes Rechteck), 2000: 34 Prozent (blaues Rechteck), 1990: 49 Prozent (gelbes Rechteck).
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STANDARD: Welche Rolle messen Sie der Nostalgie bei? ­Viele Menschen schwärmen leidenschaftlich von den guten alten Zeiten und sagen:_„Früher war alles besser.“

Sagmeister: Es gibt in den Sozialwissenschaften den Begriff des "Biased Memory", der beschreibt, dass das Schlechte an schlechten Nachrichten schneller vergessen wird wie das Gute an guten Nachrichten. Das hat schlimme Folgen: "Make America great again" funktioniert ja nur dann, wenn heute alles schlecht ist und es früher viel besser war. Aber wann war es je "great"? Vor zehn Jahren? Kann aus konservativer Sicht nicht sein, weil zu dieser Zeit Obama Präsident war. Vor 20 Jahren? Kann nicht sein, wegen 9/11, Irak und Afghanistan. Vor 40 Jahren? Kann auch nicht sein, weil Reagan mit dem genau gleichen Slogan angetreten ist.

STANDARD: Wie sieht es mit dem Sager "Die Jugend von heute" aus, also eine über Generationen konstante Kritik an den Jungen? Wo stammt diese her?

Sagmeister: Meine eigene, nicht getestete Theorie besagt, dass jede Generation die nachfolgende Generation als verweichlicht ansieht. Weil die Welt aber immer sicherer wird, macht dieser Umstand weniger aus. Sie dreht sich weiter. Meine Mutter musste als Zwölfjährige den elterlichen Bauernhof übernehmen, weil die älteren Brüder im Krieg waren und die Mutter im Gefängnis. Ich hätte diesen Test niemals bestanden. Glücklicherweise wurde ich nie getestet.

STANDARD: Eine Umfrage der Statistikbehörde Eurostat besagt, dass Österreich das zufriedenste Land in der EU sei. Dabei gilt das Land für viele als eines von Suderanten par excellence. Was sagen Sie dazu?

Sagmeister: Wenn ich nach dreißig Jahren in New York meine Schwestern und Brüder in Bregenz und Wien besuche, dann habe auch ich den Eindruck, dass das kleine Land im Großen und Ganzen gut funktioniert. Dass trotzdem geschimpft wird, gehört zum Leben dazu.

STANDARD: Warum haben Sie sich vor allem auf den Zeitraum der vergangenen 200 Jahre konzen­triert? Wäre es nicht auch interessant, wie es den Menschen zu Zeiten Karls des Großen oder Kleopatras ging?

Sagmeister: Ja, das wäre wunderbar und würde mich sehr interessieren. Leider existieren wenig verlässliche Daten über die Zeit vor 1000, 2000 oder 3000 Jahren. Auch die Sozialgeschichte über diese Zeit ist dürftig: Wir wissen viel über die Person, für die die Pyramide gebaut wurde, und wenig von den Hunderttausenden, die sie bauen mussten.

STANDARD: In Ihrem Buch spielen natürlich auch Kunst und Design eine vordergründige Rolle. Wie haben Sie sich die Bilder im Buch zunutze gemacht?

Sagmeister: Die ersten historischen Bilder fand ich auf unserem Dachboden in Bregenz. Das waren Restbestände aus dem kleinen Antiquitätengeschäft, das meine Urgroßeltern in demselben Haus führten, in dem ich aufgewachsen bin. Ich habe diese Gemälde nach Absprache mit meinen Geschwistern aufgeschnitten und neue Formen in die Bilder eingesetzt. Es handelt sich nicht um Übermalungen. Die eingesetzten Formen wirken abstrakt, sind aber natürlich Datenvisualisierungen. In der Zwischenzeit ersteigerte ich die historischen Gemälde bei kleinen Auktionshäusern in Österreich, Deutschland, Holland und Belgien.

Designer Stefan Sagmeister Interview
"Murder" zeigt die Anzahl der Morde in Europa pro 100.000 Menschen zwischen 1400 und 2000: 1400: 35 Prozent (roter Kreis), 1600: 15 Prozent (rosa Kreis), 1800: 3 Prozent (blauer Kreis), 2000: zwei Prozent (gelber Kreis).
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STANDARD: Hatten Sie keine Bedenken, in diese Werke einzugreifen?

Sagmeister: Ich habe diese ethische Frage für mich folgendermaßen beantwortet: Wenn in 200 Jahren zum Beispiel eine Designerin meine Arbeiten bei kleinen Auktionshäusern kauft und aus diesen Arbeiten neue Arbeiten gestaltet, die für das Jahr 2224 ­relevant sind, dann wäre mir das sehr recht. More power to her!

STANDARD: Könnte man die Arbeiten als eine Art von künstlerischen Interventionen bezeichnen, die eine überraschende Ästhetik generieren, vielleicht ein Sagmeister’sches Kaleidoskop der Geschichte?

Sagmeister: Ich mag den Ausdruck "zeitgenössische Eingriffe in historische Gemälde". Die Tatsache, dass diese Bilder schon vor 200 Jahren existierten, also zu einem Zeitpunkt, als wir begannen, die Daten zu sammeln, macht eine konzeptionell runde Sache daraus.

STANDARD: Der STANDARD publiziert wöchentlich eine Serie unter dem Titel: "War früher alles besser?" Diese Frage stellen wir Menschen, die zum Teil über 30, 40 Jahre in ein und derselben Branche arbeiten. Die Antwort lautet meist: "Es war nicht besser, aber anders." Ein großer gemeinsamer Nenner ist, dass die Menschen die Schnelllebigkeit, den Stress und die permanente Erreichbarkeit beklagen. Stimmen Sie dem zu?

Sagmeister: Ja, absolut, zu 100 Prozent. Und ich glaube, dass diese Dinge zu den Nebeneffekten des technischen Fortschritts gehören. Die meisten von uns besitzen aus guten Gründen ein Smartphone, es bietet viele feine Vorteile. Dass der Chef nun auch spätabends anrufen kann, ist ein Nebeneffekt. Dieser Neben­effekt lässt sich allerdings bekämpfen.

STANDARD: Apropos Arbeit: Nach Schönheit, Glück und nun "Heute ist alles besser" – was kommt als nächstes großes Thema unter die Lupe des ­Stefan Sagmeister? Wie wäre es mit Alter?

Sagmeister: Ha, das ist keine schlechte Idee! Eine gute Freundin von mir, die türkische Produktdesignerin Ayse Birsel, arbeitet allerdings schon daran.

STANDARD: Sie sind 61 Jahre alt. Welche Phase Ihres ­Lebens sehen Sie bislang als beste?

Sagmeister: Eine schwere Frage! Ich hatte zwei schwierige Phasen in meinem Leben: Zwischen 14 und 16 in der HTL in Bregenz, da ist es mir nicht gutgegangen. Und das Jahr, in dem meine Mutter gestorben ist, war ein schlechtes. Die meisten anderen Abschnitte gehörten eigentlich zu den besten Phasen meines Lebens.

STANDARD: Zum Abschluss: Wenn Sie in ein Früher ­„reisen“ könnten, welche Zeit wäre das?

Sagmeister: Wenn ich eine Zeitmaschine besäße, möchte ich nicht in die Vergangenheit, sondern auf jeden Fall in die Zukunft reisen. 2080 oder 2090 würde mich sehr anmachen. (RONDO, Michael Hausenblas 29. 2. 2024)

Designer Stefan Sagmeister Interview
Buchcover von „Heute ist besser“, Verlag Hermann Schmidt, 264 Seiten, ca. 35 Euro, typografie.de oder in einer englischen Fassung „Now is Better“ im Verlag Phaidon, phaidon.com. Es zeigt die Arbeit "Her Mark" und steht für das allgemeine Wahlrecht für Frauen zwischen 1916 und 2017: Wahlrecht 1916: sechs Prozent, Wahlrecht 1930: 30 Prozent, Wahlrecht 2017: 98 Prozent.
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