Als "verlorene antisemitische Seelen mit Pech beim Denken" bezeichnete der ehemalige Bundeskanzler Christian Kern jene antiisraelischen Aktivistinnen und Aktivisten, die Ende Jänner vor einem Büro im siebten Wiener Gemeindebezirk demonstrierten und dabei skandierten: "Christian Kern ist – Zionist." Kern war Ziel des Protests geworden, da sein Unternehmen angeblich mit einem israelischen Rüstungskonzern kooperiert. Allerdings ist Kern nicht mehr an der Firma beteiligt, er hat an der Adresse auch kein Büro. Mit "Pech beim Denken" meinte er, dass die Aktivistinnen und Aktivisten falsche Informationen hätten.

An der Kundgebung nahmen auch "Queers for Palestine" teil. Eine Gruppe, die bei antiisraelischen Demonstrationen regelmäßig für staunende sowie irritierende Blicke sorgt. Im Netz werden die "Queers for Palestine" verspottet und kritisiert. "Sie würden es nicht überleben, mit einer Regenbogenfahne durch Gaza zu laufen", ist oftmals zu vernehmen. Tatsächlich werden queere Menschen in Palästina, insbesondere in Gaza, diskriminiert und verfolgt.

Gemeinsam mit Islamisten

Doch für die Aktivistinnen und Aktivisten in Wien scheint dies keine Rolle zu spielen. Für sie geht es ausschließlich gegen Israel. Dafür marschieren sie gemeinsam mit radikalen Islamisten aus dem Umfeld der Hamas oder des sogenannten "Islamischen Staates" durch die Straßen Wiens, obwohl diese Gruppen queere Menschen zutiefst verachten und bekämpfen.

Demonstration in Wien
Kundgebung vor dem vermeintlichen Büro von Christian Kern am 18. Jänner 2024.
Foto: Markus Sulzbacher

Dieses gemeinsame Auftreten passt zu einer Weltsicht, in der es nur unterdrückende und unterdrückte Gruppen gibt. Dieses starke Schwarz-Weiß-Denken ist bei postkolonialen Gruppen verbreitet, einer intellektuellen und politischen Bewegung, die als Reaktion auf die Geschichte des europäischen Kolonialismus und Imperialismus entstanden ist. "Postkoloniale Akteurinnen und Akteure sind eher akademisch anschlussfähig und beziehen sich auf postmoderne Theorie", sagt die Antisemitismusforscherin Isolde Vogel. Sie "fokussieren stark auch auf einen rassismuskritischen Standpunkt, betonen die Betroffenenperspektive, identifizieren sich mit den Unterdrückten und agieren meist vornehmlich im akademischen Rahmen", erläutert Vogel. In Wien gibt es an verschiedenen Universitäten derartige Gruppen.

Demonstrierende mit Transparenten
Antiisraelische Kundgebung vor einem Gebäude der Universität Wien am 8. Jänner 2024, mit dabei "Queers 4 Palestine".
Foto: Markus Sulzbacher

Israel wird von ihnen als mächtiger, "faschistischer Siedler-Kolonisten-Apartheid-Staat" betrachtet, während die Palästinenser als Opfer angesehen werden. Wenn diese homophob oder frauenfeindlich sind, wird dies mit ihrer Unterdrückung gerechtfertigt. Die Tatsache, dass Israel ein Zufluchtsort für queere Palästinenser ist und LGBTIQ-Organisationen der palästinensischen Gemeinschaft dort ansässig sind, wird von einigen als "Pinkwashing", Schönfärberei, bezeichnet. In ihrem Weltbild werden sämtliche Juden als privilegierte "Weiße" gesehen, während alle Palästinenser als unterdrückte "People of Color" betrachtet werden, an deren Seite man stehe. Dementsprechend können "weiße Kolonialisten" niemals Opfer sein, deswegen werden Plakate mit Bildern von nach Gaza entführten Geiseln abgerissen und infrage gestellt, dass beim Massaker der Hamas am 7. Oktober israelische Frauen vergewaltigt wurden.

Einzigartigkeit der Shoah wird abgestritten

Zusätzlich wird die Einzigartigkeit der Shoah, der Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden, abgestritten, und in die Reihe von Verbrechen europäischer Kolonialmächte gestellt. In dieser Weltsicht spielen die Klassenzugehörigkeit und andere linke Fundamente kaum eine Rolle, genauso wenig wie die Geschichte Palästinas, die Rolle der ehemaligen Kolonialmacht England oder die Rolle des Iran im Nahostkonflikt. So können islamistische Terrororganisationen zu "linken" Gruppierungen gedeutet werden.

Demonstrierende mit Transparenten
Postkoloniale Aktivistinnen und Aktivisten am 8. Dezember 2023 bei einer antiisraelischen Kundgebung in Wien.
Foto: Markus Sulzbacher

Die linke Gendertheoretikerin Judith Butler, eine Ikone der postkolonialen Aktivistinnen und Aktivisten, sagte 2006, dass es wichtig sei, die Hamas und die libanesische Hisbollah als soziale Bewegungen zu verstehen, die sie als progressiv und "Teil der globalen Linken" betrachte. Obwohl Butler das Massaker vom 7. Oktober verurteilte, betonte sie, dass dies nicht ohne Berücksichtigung des Kontextes geschehen könne. Dabei deutete sie an, dass Israel in ihren Augen die eigentliche Ursache für den Konflikt sei. Diese Sichtweise wird auch von linken Kleingruppen geteilt. Ein Aktivist der linken, trotzkistischen Organisation "Der Funke" bezeichnete Israel in einer Rede auf einer Pro-Palästina-Demonstration in Wien als "Apartheid- und Terrorstaat", der beseitigt werden müsse.

Antisemitismus und NS-Verharmlosung bei einer Anti-Israel-Demonstration vor einem Gebäude der Universität Wien am 25. Jänner 2024.

Narrativ der "österreichischen Schuld"

"Der Funke" vertritt auch die Erzählung, Israel werde nur aufgrund einer "österreichischen Schuld" unterstützt. Also aufgrund der Verbrechen des Nationalsozialismus. Diese Legende wird seit Jahrzehnten bei Protesten gegen Israel verbreitet. Damit wird implizit der Vorwurf erhoben, dass Israel die Shoah zum eigenen Vorteil ausnutzt. Derartige Erzählungen sind auch aus Reihen der Wiener "Migrantifa" zu vernehmen. Damit ersparen sich die antiisraelischen Aktivistinnen und Aktivisten zu erwähnen, dass das Massaker der Hamas den jüngsten Gazakrieg ausgelöst hat. Sie bezeichnen den Terror der Hamas als "legitimen Widerstand".

BDS-Aktivistin teilt Hamas-Propaganda

Dies sieht offensichtlich auch eine Wiener Aktivistin der BDS-Kampagne und ehemalige Podcasterin so. Sie teilte wenige Tage nach dem Überfall der Hamas ihre Propaganda auf ihrem Instagram-Kanal. BDS steht für Boycott, Divestment and Sanctions, Ziel ist es, den Staat Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch zu isolieren. Dazu gehört auch der Boykott israelischer Produkte. Hinter BDS versammeln sich weltweit Gruppen, von der Hamas bis zu postkolonialen Organisationen in Wien.

Demonstrierende mit Transparenten und Palästina-Flagge
Protest gegen eine antiisraelische Kundgebung vor einem Gebäude der Universität Wien am 8. Jänner 2024. Die Polizei ging gegen die Gegenkundgebung vor.
Foto: Markus Sulzbacher

Obwohl sich die österreichischen Aktivistinnen und Aktivisten der BDS-Bewegung als links bezeichnen, wollen nur wenige linke Organisationen etwas mit ihnen zu tun haben. Die steirische KPÖ etwa stellte bereits vor Jahren öffentlich klar, dass sie die BDS-Boykottkampagne "an die widerwärtige 'Kauf nicht beim Juden'-Propaganda der Nazis" erinnere. (Markus Sulzbacher, 1.3.2024)