Kurz nach halb acht Uhr morgens geht es für alle los in Richtung Volksschule: Der Tross wird bei der Kalvarienbergkirche komplett.
© Christian Fischer

Anselm hat das Wichtigste vergessen. "Mein Helm", schießt es dem Zehnjährigen ein. Zum Glück sind es zur Wohnung zurück nur wenige Schritte – vorbei an der Kirche, die Gasse hoch. Anselm rennt, er muss sich beeilen.

Um halb acht Uhr morgens geht es vor der Kirche bereits lebhaft zu. "Guten Morgen, guten Morgen, guten Morgen, Sonnenschein", trällert Nana Mouskouri aus einem Lautsprecher. Viele Kinder mit Schultaschen am Rücken kurven auf Fahrrädern herum, ein paar Erwachsene in grellen Warnwesten plaudern, Seifenblasen fliegen über den Platz. Dann ist es so weit: "Macht's euch auf. Diepold ist da", ruft ein Mann mit neongelbem Helm.

Diepold – das ist ist eine Gruppe von Volksschulkindern und Eltern, die vom nahen Diepoldplatz zur Kirche geradelt sind und die Wartenden abholen. Pling-pling, rrring! Die Gruppe ist weder zu überhören noch zu übersehen: Sie nimmt die ganze Fahrbahn der Kalvarienberggasse ein. Tut-tuuut! Nicht der Golf, der wegen des Trosses warten muss, hupt – sondern Anselm. Er war rechtzeitig zurück, trägt den Helm auf seinem Kopf und drückt die Hupe, die er zuvor extra an seinem Lenker montiert hat: zur Feier einer besonderen Ausfahrt.

Michael Doberer startete den Hernalser Bicibus im September 2023. Heute sind bis zu 60 Kinder und Eltern dabei.
© Christian Fischer

Was sich da seinen Weg durch den 17. Wiener Bezirk bahnt, hat einen Namen: Bicibus – eine Kombi aus dem spanischen "bici" für Fahrrad und "Bus". Das Konzept funktioniert so: Eine Gruppe von Kindern und Begleitpersonen radelt zu fixen Zeiten entlang einer festgelegten Route in die Schule. An definierten Punkten, den Haltestellen, kann man sich anschließen. Die Idee dahinter: Gemeinsam ist man sicherer unterwegs.

Not machte erfinderisch

In Österreich ist das Konzept relativ neu, in anderen Ländern gibt es Bicibusse schon länger. Forschende in Barcelona haben den ersten offiziellen Bicibus im Jahr 1998 in Belgien ausgemacht. Laut deren Untersuchung sind Bicibusse heute weltweit verbreitet, wobei Initiativen in Kolumbien und Spanien die Verbreitung stark ankurbelten.

Hierzulande war eine Gesetzesnovelle ein Katalysator. Seit Herbst 2022 ist es Erwachsenen auf den meisten Straßen erlaubt, neben Kindern zu radeln. In Straßen mit Tempo 30 dürfen bis auf wenige Ausnahmen sogar alle Radler nebeneinander fahren. Wollen Autos überholen, müssen sie definierte Abstände einhalten. Das machte Bicibusse erst möglich.

Der Bicibus bahnt sich seinen Weg vom 17. in den 16. Bezirk, die Fahrt dauert rund 15 Minuten.
© Christian Fischer

In Hernals gab eine gewisse Not die Initialzündung: Weil die Volksschule in der Kindermanngasse bis 2025 umgebaut wird und unbenutzbar ist, findet der Unterricht für rund 300 Kinder seit Herbst 2023 in einem 1,5 Kilometer entfernten Ersatzquartier in der Panikengasse statt. Mit der Straßenbahn dorthin zu fahren, ist mühsam: Die Linie 9 ist morgens so überfüllt, dass Mitfahrwillige oft auf die nächste Bim warten müssen, stellten die Betroffenen fest. Und es wird wohl nicht besser: Ab Mitte März werden entlang der Strecke Gleise getauscht, der 9er fährt deshalb nur eingeschränkt. Eine Alternative musste her.

Veränderung durch Tun

Michael Doberer, der Mann mit dem neongelben Helm, fand sie: "Alle Eltern haben sich über den 9er aufgeregt." Irgendwann sei das Wort Bicibus gefallen – Doberer machte sich schlau und wagte den Versuch: Mit seinen Kindern Anselm und Philomena sowie einer weiteren Familie radelte er eines Morgens los. Auf dem Weg gabelten sie drei weitere Familien auf, der Bicibus war geboren. An Spitzentagen fahren bis zu 60 Kinder und Eltern mit. So auch an diesem Mittwoch, bei der mittlerweile 100. Fahrt, die mit Seifenblase und Hupe gefeiert wird.

Dabei ist der Bicibus schon an sich eine Attraktion. Wo er im Grätzel vorbeikommt, zieht er die Blicke von Fußgängern und Autolenkerinnen auf sich. Neugierige und erstaunte Blicke – meist gepaart mit einem Lächeln. Die Kinder sind die Aufmerksamkeit gewohnt: Sie winken. Ganz nebenbei steigern sie ihr Bewegungspensum und sammeln Erfahrung mit umweltfreundlicher Mobilität.

Die Kinder sind die Aufmerksamkeit schon ein wenig gewohnt: Sie winken verdutzt schauenden Passantinnen und Passanten zu.
© Christian Fischer

Nähert sich die Gruppe einer Querung, fährt automatisch eine Begleitperson vor und stellt sich auf die Kreuzung, damit der Bicibus passieren kann. Das erlaubt die sogenannte Verbandsregel: Fährt eine Gruppe ab zehn Personen in eine Kreuzung ein, muss ihr der Querverkehr ermöglichen, die Kreuzung gemeinsam zu verlassen. Beim Einfahren in die Kreuzung muss die Gruppe die Vorrangregeln einhalten.

"Manche Autos hupen, wenn wir kommen. Aber wir machen nur für andere Radfahrer Platz, nicht für Autos", sagt die siebenjährige Philomena. Der Anspruch sei nicht, anderen etwas wegzuschnappen, betont Doberer: "Wir nehmen einfach unser Recht wahr." Er sei froh, wenn bessere Infrastruktur gebaut werde, die auch Kindern sicheres Radeln ermögliche. Aber: "Ich bin nicht mehr bereit, darauf zu warten." Der Bicibus sei keine Demo, das ist Doberer wichtig. Sein Ansatz: Veränderung durch simples Tun.

Vom Landrad zum Citybike

Tochter Philomena lässt die Fahrt mit dem Bicibus nur aus triftigen Gründen aus: "Zweimal war ich nicht dabei, da hatte ich eine Gehirnerschütterung." Gefahren wird täglich, bei jedem Wetter. Das unterscheidet den Hernalser Bicibus von jenen im 19. und 23. Bezirk, die sporadischer und erst ab Frühling unterwegs sind.

An den Kreuzungen sperren Erwachsene die Kreuzung ab – der Bicibus kann sicher passieren.
© Christian Fischer

Ups. Reifen, Rahmen und Fuß eines Schülers haben sich verkeilt. Doberer bemerkt es sofort und hilft dem Buben. Passiert ist dem Bicibus-Neuling nichts – und auch sonst niemandem: Die anderen fließen vorbei. Bei dem Tempo von rund zehn km/h, das der Bicibus fährt, bleibt ausreichend Zeit zum Reagieren.

Damit noch mehr Kinder mitmachen können, sammelt der Elternverein Spenden, um Räder für Schülerinnen und Schüler aus ökonomisch schwächeren Familien zu kaufen. Nicht vorhandene Räder seien aber auch bei besser Betuchten ein Hindernis, erzählt Doberer. Oft befinde sich das teure Woom-Bike im Wochenendhaus auf dem Land. Weil die Überzeugung herrsche, dass die Kinder in Wien ohnehin kein Rad brauchten. Das ändere sich nun: Immer mehr Landräder würden durch den Bicibus den Weg in die Stadt finden.

Je mehr dabei sind, desto besser, findet Levian: "Es ist einfach schön, wenn beim Bicibus so viele Kinder mitfahren." Auch für Erwachsene brauche es so etwas, sagt der Zweitklässler. "Das ist umweltfreundlicher. Und dann sind mehr Räder in der Stadt." (Stefanie Rachbauer, 1.3.2024)

Video: Fahrradfahren in Wien: Nur für mutige Eltern?
DER STANDARD