Polizeiauto vor dem Landesgericht Krems.
Drei Tage lang wurde am Landesgericht für Strafsachen Krems über das Martyrium eines Zwölfjährigen gegen zwei Frauen verhandelt.
EPA / CHRISTIAN BRUNA

Wien – Die essenzielle Frage nach dem Warum wird auch am dritten und letzten Verhandlungstag im Prozess um den von seiner Mutter und einer zweiten Frau beinahe zu Tode gequälten Zwölfjährigen im Waldviertel nicht beantwortet. Warum hat die 33-jährige Erstangeklagte, der von Staatsanwältin Anna Weißenböck als schwerstes Delikt Mordversuch vorgeworfen wird, ihren Sohn beinahe verhungern lassen, ihn mit Wasser übergossen und bei Minusgraden vor einem offenen Fenster stehen lassen, sodass er am Ende chronische Erfrierungen an den Füßen hatte, und zur Strafe in eine Hundebox gesperrt? Warum hat die 40 Jahre alte Zweitangeklagte sie dazu angestiftet, so die Anklage stimmt? Und warum hat niemand eingegriffen und das Martyrium des Buben vorzeitig beendet?

"Wie würden Sie Ihrem Sohn heute die Geschehnisse von damals erklären?", will einer der Geschworenen von der erstangeklagten W. wissen. "Dass mir das schrecklich leid tut, was passiert ist", antwortet die Unbescholtene schluchzend. "Und dass ich nicht weiß, wie es so weit hat kommen können." Eine Lehre hat W. aber gezogen: "Wenn ich gewusst hätte, wo das alles hinführt, hätte ich nie mit Frau B. Kontakt aufgenommen."

Die angesprochene Zweitangeklagte, die am zweiten Verhandlungstag noch mit völliger Teilnahmslosigkeit aufgefallen ist, präsentiert bei ihrer ergänzenden Befragung diesmal ein Übermaß an Emotionen. Erstmals gibt sie zu, dass sie einmal dabei gewesen sei, als das Kind in die Hundebox gesperrt worden sei. "Geh jetzt in die Box, sonst derschlag ich dich!", habe die Erstangeklagte ihrem Sohn gedroht, worauf der Zwölfjährige, der eine verminderte Intelligenz hat, sich selbst in den 50 mal 40 Zentimeter kleinen Behälter gezwängt habe. "Ich habe ihn dann nach ein paar Minuten herausgelassen", stellt B. sich als Helferin dar.

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Tränenreiche Entschuldigung

Unter Weinkrämpfen gibt sie bekannt, sich bei dem Buben und dessen Vater, bei dem er mittlerweile lebt, zu entschuldigen. Sie bestreitet aber, tatsächlich die Anstifterin für die Quälereien gewesen zu sein. Sie hatte den Eindruck, dass die Erstangeklagte an Verfolgungswahn gelitten habe. "Warum haben Sie nichts gemacht, wenn Sie das dachten?", will der psychiatrische Sachverständige Peter Hofmann von ihr wissen. "Sie war eh dauernd bei Begutachtungen!", entgegnet die Zweitangeklagte. Kurz darauf nennt sie einen weiteren Grund: "Ich dachte mir, warum muss ich mich immer um alles kümmern!", beschwert sie sich.

"Das ist jetzt die achte Vernehmung von Ihnen. Wenn Sie in jeder einzelnen mit neuen Ausreden kommen – warum soll man Ihnen noch ein Wort glauben?", stellt Anklägerin Weißenböck eine rhetorische Frage. Wieder bricht B. in Tränen aus: "Was da im Fernsehen über mich gesagt wird, dass ich sadistisch bin – ich würde nie einem Menschen wehtun", beteuert sie, antwortet aber nicht auf die Frage. Sie bezichtigt ihre Mitangeklagte und den eigenen Onkel, der als Zeuge ausgesagt hat, der Lügen und schluchzt neuerlich.

Das von Hofmann vorgetragene psychiatrische Gutachten kann die Warum-Frage ebenso wenig beantworten. Er kommt zum Schluss, dass W. damals in einer "hochsymbiotischen Beziehung" zur Zweitangeklagten gestanden sei. Sie habe die vierfache Mutter bewundert und sei in einer hohen Abhängigkeit zu ihr gestanden. Es hätte zwar paranoide Entwicklung gegeben und eine "hochrelevante Störung der Emotionalität" bestanden, was zu einer herabgesetzten Steuerungsfähigkeit geführt habe, insgesamt sei die Erstangeklagte aber zurechnungsfähig. Jedoch auch so gefährlich, dass sie in einem forensisch-therapeutischen Zentrum untergebracht werden müsse. Hofmann hält es aber für möglich, dass die Mutter "gewisse Wahrnehmungsstörungen zum Zustand ihres Kindes hatte".

"Manipulativer Gesprächsstil"

Bei der Zweitangeklagten sieht der Gutachter einen "klassischen manipulativen Gesprächsstil", auf Anraten ihres Verteidigers Sascha Flatz habe sie ein Gespräch mit Hofmann aber abgelehnt. Das familiäre Umfeld sei unauffällig gewesen, ein Muster erkennt er nur bei den Beziehungen mit den Kindsvätern: Die verließen B. nämlich immer nach relativ kurzer Zeit für neue Frauen. Wenn sie die angeklagten Taten begangen habe, dann "können Sie davon ausgehen, dass es innerlich große Abgründe gibt", die eine Unterbringung wegen Gefährlichkeit begründen, erklärt Hofmann den Laienrichterinnen und -richtern. "Wenn sie es gemacht hat, dann muss es ihr etwas gegeben haben", ist der Gutachter überzeugt.

Auch wenn er nicht mit ihr persönlich gesprochen hat, kann Hofmann etwas über B.s Verhalten im forensisch-therapeutischen Zentrum Asten, in dem die beiden Österreicherinnen ihre Untersuchungshaft verbringen, sagen. Die Patientinnen werden dort nämlich dauernd beobachtet; das Personal kam zum Schluss, dass B. "überangepasst" sei, gleichzeitig "in ihrer Wohngruppe sehr bestimmend", sie habe eine Clique um sich geschart und belausche die anderen und tratsche über sie.

Insgesamt sei die Beziehung zwischen den beiden Angeklagten jedenfalls hochkomplex gewesen und das Verbrechen "monströs". "Das kann man in der österreichischen Justizgeschichte als Jahrhundertfall einordnen", rekapituliert Hofmann, ihm selbst sei in den vergangenen 30 Jahren als gerichtlicher Sachverständiger nur ein vergleichbarer Fall untergekommen. "Das ist fortgesetzte Folter gewesen", findet er klare Worte.

"Haben den Bub zerstört"

Solche sind auch in den Schlussplädoyers zu hören. Staatsanwältin Weißenböck stellt fest: "Die beiden Frauen haben den Bub zerstört, zumindest seelisch!", und sie fordert eine anklagekonforme Verurteilung. "Sie haben die Fassaden der beiden Frauen erlebt", ist sie überzeugt, dass beide nur eine Rolle spielen. W. versuche sich als "willenloses Werkzeug" darzustellen, die nur B.s Befehle ausgeführt habe. Die Zweitangeklagte wiederum behauptet, Angst vor W. gehabt zu haben und eigentlich nichts gemacht zu haben. Ihre Lachsmileys zu Bildern und Videos des gequälten Kindes, die in den hunderten sichergestellten Chats zu sehen sind, würden aber eine ganz andere Sprache sprechen. "Ich hoffe sehr, dass es den Angeklagten nicht gelungen ist, Sie zu manipulieren", appelliert sie an die Laienrichterinnen und -richter.

Privatbeteiligtenvertreter Timo Ruisinger nimmt der Erstangeklagten ihre Rolle ebenso wenig ab. Dafür verweist er auf eine Google-Suche von W. wenige Tage, bevor ihr Sohn ins Koma fiel: "Kindesmissbrauch Strafe Österreich" interessierte die 33-Jährige. Von B. seien ihm vor allem ihre Weinkrämpfe in Erinnerung geblieben. "Aber diese Tränen haben nichts mit Reue zu tun. Die Tränen sind der Angst vor den Konsequenzen geschuldet", ist er sich sicher. Das Kind wisse, dass der Prozess zu Ende geht, "er wünscht sich Gerechtigkeit", gibt der Privatbeteiligtenvertreter, der 150.000 Euro Schmerzensgeld fordert, bekannt.

Die in der Früh um vier Minuten zu spät gekommene Verteidigerin der Erstangeklagten, Astrid Wagner, betont dagegen, für den angeklagten Mordversuch fehle bei ihrer Mandantin der Vorsatz. "Sie hat damals in einer verzerrten Wahrnehmungsblase gelebt und die Lebensgefahr nicht erkannt", argumentiert sie. Und selbst wenn die Geschworenen das nicht glauben – W. sei freiwillig vom Versuch zurückgetreten, da sie schlussendlich doch die Rettung angerufen hatte. B.s Verteidiger Flatz versucht herauszuarbeiten, dass seine Mandantin das ganze Ausmaß der Quälereien nicht erkannt und überdies versucht habe, mäßigend auf ihre Freundin einzuwirken.

Nach über sieben Stunden Beratung werden dann die Urteile verkündet. Die Erstangeklagte wird mit sieben zu einer Stimme wegen Mordversuchs verurteilt, auch die Zweitangeklagte wird einstimmig anklagekonform wegen der Bestimmung zur fortgesetzten Gewaltausübung verurteilt. Die nicht rechtskräftigen Strafen: 20 Jahre Haft für W., B. muss 14 Jahre ins Gefängnis. Bei beiden Frauen wird auch die strafrechtliche Unterbringung in einem forensisch-therapeutischen Zentrum angeordnet. Dem Kind werden 80.000 Euro zugesprochen. Während die Anklägerin das Urteil akzeptiert, nimmt die Erstangeklagte sich drei Tage Bedenkzeit, B. meldet Nichtigkeit und Berufung an. (Michael Möseneder, 29.2.2024)