Programmchef Mark Peranson, die Bären-Gewinnerin Mati Diop und der künstlerische Leiter Carlo Chatrian nach der diesjährigen Preisgala.
Programmchef Mark Peranson, die Bären-Gewinnerin Mati Diop und der künstlerische Leiter Carlo Chatrian nach der diesjährigen Preisgala.
AFP/POOL/NADJA WOHLLEBEN

Der scheidende künstlerische Berlinale-Leiter Carlo Chatrian und sein Programmchef Mark Peranson haben nach der umstrittenen Abschlussgala der Filmfestspiele die kritisierten Filmschaffenden am Freitag in Schutz genommen. Die Debatten der letzten Woche hätten gezeigt, dass deutsche Kulturinstitutionen "in großer Gefahr seien". Das Festival habe den Dialog zelebriert, doch ab dem Zeitpunkt der Preisverleihung habe ein medialer und politischer Diskurs übernommen, der den Begriff Antisemitismus für politische Zwecke instrumentalisiert und die Meinungsfreiheit eingeschränkt habe.

Todesdrohungen

Während der Gala sprach der israelische Filmemacher Yuval Abraham von Politik der Apartheid. Er war mit dem Palästinenser Basel Adra in einem israelisch-palästinensischen Kollektiv für den Film "No Other Land" über die Siedlungspolitik in der West-Bank ausgezeichnet worden. Abraham und seine Familie erhalten nach eigenen Angaben seitdem Todesdrohungen.

Der Israeli zeigte sich außerdem schockiert darüber, dass er als Nachfahre von Holocaust-Überlebenden von deutschen Medien als Antisemit bezeichnet werde und forderte einen sachlicheren Umgang mit dem Begriff Antisemitismus:

"Der entsetzliche Missbrauch dieses Wortes durch Deutsche, nicht nur um palästinensische Kritiker Israels zum Schweigen zu bringen, sondern auch um Israelis wie mich zum Schweigen zu bringen, die einen Waffenstillstand unterstützen, der das Töten in Gaza beendet und die Freilassung der israelischen Geiseln ermöglicht, entleert das Wort Antisemitismus seiner Bedeutung und gefährdet damit Juden in der ganzen Welt", schreibt Abraham auf X.

Warnung vor Polarisierung

Chatrian und Peranson schließen sich der Kritik an. "Wir stehen in Solidarität mit allen Filmemachern, Jurymitgliedern und anderen Festivalgästen, die direkte oder indirekte Drohungen erhalten haben und stehen hinter den Entscheidungen für das Programm der diesjährigen Berlinale." Ihr Statement erinnert sowohl an das Leid der israelischen Geiseln durch die Hamas als auch an die Menschen in Gaza, deren Leben in Gefahr sei. "Das Trauern um Menschen auf der einen Seite bedeutet nicht, dass wir nicht auch um den Verlust aller anderen trauern. Das Gegenteil zu behaupten, ist einfach unehrlich, beschämend und polarisierend."

Des weiteren äußern sie die Hoffnung, dass die Berlinale ein "Fenster der freien Welt" bleibe: "Ein Ort, zu dem jeder internationale Gast kommen kann, ohne dass seine politischen Ansichten überprüft werden." Sie verwiesen auf Äußerungen des Direktors der Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel: "Es wäre falsch, alle diejenigen, die Israel einseitig und mit zum Teil auch radikalen Positionen kritisieren, als Antisemiten zu bezeichnen", hatte Mendel gesagt. "Ob es uns gefällt oder nicht, wir müssen lernen, solche Debatten auszuhalten."

Code of Conduct gegen Antisemitismus

Während der Gala am Samstag war der Nahostkonflikt mehrfach thematisiert worden. Zahlreiche Mitglieder aus Jurys sowie Preisträgerinnen und Preisträger forderten verbal oder mit Ansteckern einen Waffenstillstand im Gaza-Krieg. In Statements war die Rede von "Apartheid" im Zusammenhang mit der Situation in den von Israel besetzten Gebieten und von "Genozid" (Völkermord) mit Blick auf das Vorgehen der Armee in Gaza. Im Anschluss gab es Kritik bis hin zu Vorwürfen von Israelhass und Antisemitismus.

Kulturstaatsministerin Roth sagte im Magazin "Der Spiegel": "Wir müssen Antisemitismus im Kulturbetrieb noch viel wirkungsvoller entgegentreten." Ein möglicher Weg seien Codes of Conduct der Einrichtungen. "Es geht um die Frage, wo die Kunstfreiheit endet, wenn sie die Würde des Menschen verletzt." Aus Sicht Roths reichen solche Verhaltensregeln allein nicht aus. Sie müssten mit Weiterbildungen und Sensibilisierungen etabliert und in der Tagespraxis gelebt werden. "Das ist ein Prozess, der leider nicht von heute auf morgen passiert."

Claudia Roth in der Kritik

Roth ist selbst in der Kritik. Sie saß während der Gala ebenso im Saal wie Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner und Kultursenator Joe Chialo (beide CDU). Von allen gab es erst deutlich später Kritik an den einseitigen israelkritischen Äußerungen einiger Filmschaffender bei der Gala. Der Bund ist Träger der Berlinale, Berlin beteiligt sich an der Finanzierung. Nun sagte Roth: "Ich tue mich sehr schwer mit der Vorstellung, dass bei einem internationalen Filmfestival, einer Kulturveranstaltung, bei der die Berlinale die Gastgeberin ist, Vertreterinnen und Vertreter von Bund und Land und damit des Staates intervenieren."

Die Grünen-Politikerin kündigte erneut eine umfassende Aufarbeitung an. Der Aufsichtsrat der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin, zu denen die Berlinale gehört, soll sich damit befassen. Sie habe eine Sondersitzung einberufen, sagte Roth. Das Gremium kommt nach ersten Informationen am 11. März zusammen. "Es ist bitter, dass die missglückte und zum Teil unerträgliche Preisverleihung jetzt die ganze Berlinale überschattet", sagte Roth. Sie bedauerte auch die Form der Auseinandersetzung, es gehe nur noch um Schwarz und Weiß, Freund und Feind. "Die Räume dazwischen gehen verloren, man hört sich nicht mehr gegenseitig zu." Wirklich gefährlich sei diese aufgeheizte Stimmung vor allem für die Jüdinnen und Juden. (APA, red, 2.3.2024)