Bernhard Pörksen, Kathrin Stainer-Hämmerle, Eric Frey, Isolde Charim und Jürgen Kaube (v. li.) auf der Bühne des Burgtheaters bei der Sonntagsmatinee
Medienwissenschafter Bernhard Pörksen, Politologin Kathrin Stainer-Hämmerle, Moderator Eric Frey, Philosophin Isolde Charim und "FAZ"-Herausgeber Jürgen Kaube im Burgtheater (v. li.).
Regine Hendrich

Wann ist ein Haufen ein Haufen? 100 Körner sind sicher einer. 99 auch. So wie 98, 97, 62 und so weiter. Aber ab wann ist es keiner mehr? Der Haufen an sich lässt sich nicht konkret bestimmen. So ähnlich ist es mit der "Spaltung" der Gesellschaft. Ist sie (schon) gespalten? Noch nicht? Was fehlt, was ist schon real?

Sie stand am Sonntagvormittag auf dem Spielplan des Burgtheaters, das die Matinee "Europa im Diskurs" gemeinsam mit der Erste Stiftung, dem Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) und dem STANDARD veranstaltet und diesmal der Frage "Wie gespalten ist unsere Gesellschaft?" widmete. Das sei "eine entscheidende Frage für die Zukunft unserer Demokratie", sagte Moderator Eric Frey, Leitender Redakteur des STANDARD, zu Beginn, "weil Spaltung kann in Bürgerkriege münden", siehe Österreich 1934.

Europa im Diskurs: Wie gespalten ist unsere Gesellschaft? Bernhard Pörksen, Kathrin Steiner- Hämmerle
Medienwissenschafter Bernhard Pörksen und Politikwissenschafterin Kathrin Stainer-Hämmerle.
Regine Hendrich

Es war der Medienwissenschafter Bernhard Pörksen von der Universität Tübingen, der die Paradoxie des Haufens, die auf den antiken Philosophen Eubulides von Milet (4. Jh. v. Chr.) zurückgeht, ins Spiel brachte. Diese Denkfigur beschreibe "das Problem der Zeitdiagnostik", erklärte Pörksen: "Welche Phänomene addiert man auf welche Weise, sodass eine bestimmte Gestalt definitiv benannt werden kann?" Denn: "Diagnosen sind folgenreich." Entsprechend trat er für eine "Form von Behutsamkeit und ein Ringen um Nuancen, Details und Konkretion" ein. Ein solches Detail: "Die sozialen Medien sind eine Eigenwelt, die wir nicht für die gesamte Welt nehmen dürfen", rät der Medienexperte. 50 Prozent aller Hasskommentare im Netz würden von nur fünf Prozent der Menschen dort geschrieben. Pörksen sieht daher "sehr viele Spaltungsdiagnosen und eine sehr hohe Spaltungsfurcht", aber "ein nicht so gespaltenes Verhalten. Das Gefühl der Spaltung entsteht ohne Spaltungsrealität." Aber, Stichwort unbestimmter Haufen: Die radikale Minderheit der "Konfliktunternehmer", die vom Polarisierungsgeschäft im Internet profitieren, könnten aus der gefühlten Spaltung aber durchaus eine reale machen, warnte Pörksen. Das "Gebot der Stunde" sei "die Unterbrechung der Normalisierung des Verdachts".

Ich, ich, ich

Auch die Philosophin Isolde Charim will nicht von einer gespaltenen Gesellschaft sprechen: "Spaltung würde bedeuten, dass absolut kohärente Weltbilder aufeinandertreffen. Wir haben inhaltlich wechselnde Bündnisse." Verändert habe sich die Form der Konfliktaustragung. Sie beobachtet "eine neue Unversöhnlichkeit" in den öffentlichen Debatten, egal, ob Corona, Ukraine oder Nahost. Wo kommt die her? Metaphorisch gesprochen vom einzelnen Korn im Haufen, oder, wie Charims These lautet: "Wir verhandeln nicht mehr als Staatsbürger miteinander, sondern als private Einzelne, die einander gegenüberstehen und sich nicht mehr auf etwas Allgemeines beziehen, sondern jede inhaltliche Frage persönlich aufladen. Damit wird alles zu einer Identitätsfrage – und das Ich lässt sich nicht verhandeln." In dieser Arena, in der Konflikte "im Naturzustand der Meinungen" und der "vollkommenen Verbreitung des Verdachts" ausagiert werden, sieht Charim "Auflösungstendenzen von dem, was Gesellschaft ausmacht".

Europa im Diskurs: Wie gespalten ist unsere Gesellschaft? Isolde Charim, Jürgen Kaube
Philosophin Isolde Charim und FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube
Regine Hendrich

"Verbal eskaliert es ständig, aber faktisch nicht", lautete auch die entwarnende Gesellschaftsdiagnose des Herausgebers der Frankfurter Allgemeinen Zeitung(FAZ), Jürgen Kaube. Der dort für das Feuilleton zuständige Soziologe argumentierte systemtheoretisch: "Moderne Gesellschaften sind voller Streit. Streit über alles ist erlaubt, auch jede Mikrospaltung." Siehe Parteienkonkurrenz, das Rechtssystem stellt Ressourcen zur Streitbeilegung bereit, man kann sich scheiden lassen: "Die moderne Gesellschaft ist eine Streitgesellschaft." Gespalten wäre sie, "wenn es einigen wenigen Konflikten gelänge, den größten Teil einer Gesellschaft entlang einer Linie aufzureihen – und man müsste sich entscheiden. Das ist nicht der Fall. Was es allerdings gibt, ist eine Art rhetorischer Spaltung der Gesellschaft", sagte Kaube. In Talkshows und auf Twitter sehe man große "Anstrengungen, Spaltungstendenzen zu unterstreichen, obwohl es sozialstrukturell gar nicht so viele Anzeichen dafür gibt."

Apropos die (un)gespaltene Welt als Wille und Vorstellung: Die Politikwissenschafterin Kathrin Stainer-Hämmerle von der Fachhochschule Kärnten wies in dem Zusammenhang auf die "Verantwortung der politischen Eliten" hin und erinnerte an das "starke Lagerdenken in Österreich", das durch die vom Bürgerkrieg geprägten Politiker über Jahrzehnte bewusst durchbrochen wurde, die Milieus haben sich langsam angenähert, die Unterschiede wurden in der Konsensdemokratie bewusst nicht befeuert – und das ohne die "populistische Erzählung von ,einem Volk‘, denn es gab und gibt immer Fragmentierungen". Die sozialen Medien hätten, neben den bekannten negativen Effekten, aber auch "viele unterschiedliche Interessen, die wir immer schon hatten, sichtbar gemacht, weil bestimmte Gruppen jetzt überhaupt erst an Diskursen teilnehmen können."

Wir alle

Zum Schluss bat Moderator Frey die Gäste noch um je eine politische Empfehlung gegen Spaltung. Pörksen pochte dringend auf ein eigenes Schulfach Medienerziehung. "Journalismus ist nicht nur Beruf, sondern Kulturtechnik", die alle erlernen müssten, weil mit den neuen Medien auch alle zum "Sender" werden können. "Das Ethos des guten Journalismus soll Element der Allgemeinbildung werden."

Stainer-Hämmerle empfahl als schneller realisierbare Maßnahme: "Zeitungen kaufen!" Sie appellierte vor allem an die politischen Eliten, "ihre Vorbildwirkung wieder mehr zu erkennen und Spaltungen nicht herbeizureden", weil sie hofften, so ein paar Prozente bei der Wahl zu gewinnen: "Sie machen den Unterschied." Die Politologin ließ auch das Publikum, "uns alle", nicht außen vor. "Parteien tun meist das, wofür sie belohnt werden." Also kein Applaus oder Kreuz in der Wahlzelle für unerwünschte Spaltungsversuche in Wort und Tat. Und aufhören mit Pauschalurteilen wie "die Medien", "die Politik" oder "das Volk".

Isolde Charim kondensierte ihren Ratschlag auf einen Satz: "Wir bräuchten eine Gesellschaft, wo man einfach weniger Ich sein kann."

Oder ein Ich, das einfach weniger quatscht, Xt also twittert oder sich sonst wie im Schnellschussverfahren verbreitert. In diese Richtung argumentierte Kaube, der auf "Selbstbeschränkung" im Namen der Vernunft hofft. Wenn wir wieder "mehr Verstand in die Kommunikation bringen möchten", dann müsse sich jeder selbst fragen, wie er oder sie es denn in der Familie oder mit Freunden halte, "ob man bereit ist, die Stärke der Meinung zu verbinden mit der Intensität der Befassung mit einem Thema. Sollte ich wirklich heftigste Ansichten entwickeln über Dinge, Länder, Menschen, die ich gar nicht oder nur leidlich kenne?", fragte Kaube. Muss es wirklich raus in die Welt? "So, aus solchen Körnern, entsteht dann dieser Haufen."

Wir haben es also selbst in der Hand, ob der Haufen, den wir "Spaltung" nennen, größer wird oder kleiner oder gar keiner (mehr) ist. (Lisa Nimmervoll, 4.3.2024)