Hanni Rützler
Hanni Rützler ist eine der international führenden Expertinnen, wenn es um den Wandel der Esskultur und neue Foodtrends geht.
Julietta Kunkel

Dürren, Ernteausfälle, Lieferschwierigkeiten, Engpässe in der globalen Getreideversorgung, Proteste von Landwirtinnen und Landwirten: Die Lebensmittelproduktion hat in den vergangenen Jahren mit tiefgreifenden Veränderungen zu kämpfen. Hinzu kommt die Sorge um die Zukunft, in der Klimawandel, die Degradierung von Böden und der Verlust der Biodiversität auch die Herstellung von Nahrungsmitteln beeinflussen werden. Die Frage, was auf den Teller kommt, hat sich vor diesem Hintergrund zu einem höchst brisanten Thema verwandelt. Was es braucht, um Menschen mit gesunden Lebensmitteln zu versorgen und gleichzeitig planetare Grenzen zu achten, weiß Hanni Rützler. Die Ernährungswissenschafterin und Foodtrend-Forscherin wird beim diesjährigen Symposion Dürnstein über Esskultur im Wandel sprechen und aufzeigen, welche Rolle Tradition und Innovation spielen. Der STANDARD hat die Expertin vorab zum Interview getroffen.

STANDARD: Wir müssen Umweltschutz, Bodenschutz, Klimaschutz und soziale Bedingungen bei der Ernährung unter einen Hut bringen. Geht sich das alles aus?

Rützler: Das Ausrichten der gesamten Lebensmittelproduktionskette in Richtung nachhaltiger Kreislaufwirtschaft ist ein komplexes Ziel. Dabei gilt es den Gesundheitsbereich und den Klimawandel mitzudenken, denn Klima- und Ernährungslösungen sind eng miteinander verflochten. Meist werden die Themen Landwirtschaft, Biodiversität, Klimaschutz und Gesundheit jedoch getrennt behandelt und die Synergien nicht genutzt. Durch die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten und die Inflation herrscht zudem viel Unsicherheit und Zukunftsangst, die Beharrungstendenzen verstärken und notwendige Veränderungen erschweren.

STANDARD: Wie kann man dem begegnen?

Rützler: Indem man Lösungen gemeinsam, im Dialog und als Prozess angeht und nicht billiges Kapital aus der Angst schlägt. Es ist eine komplexe Herausforderung, die komplexer Antworten bedarf. Aber wir können die Anstrengungen bündeln, um eine größere Wirkung zu erzielen. Es gibt bereits viele gute Ideen, aber man muss den Mut haben, systemisch zu denken und neue Geschäftsmodelle zu entwickeln, die positive Auswirkungen in allen genannten Bereichen erzielen. Letztlich geht es um eine neue Zukunftsvision, einen Paradigmenwechsel. Das alte Paradigma von "schneller, billiger, mehr" ist nicht mehr zukunftsfit. Es hat uns in diesen Reichtum geführt, es war ein Kind der Zeit des Mangels und der Nachkriegszeit und es war darin auch nicht alles falsch. Aber es braucht eine Neuausrichtung, um eine nachhaltigere Ernährungszukunft zu gestalten.

STANDARD: Warum fällt es uns oft so schwer, Neues zu integrieren oder nur alle drei Wochen Schnitzerl zu essen?

Rützler: Es fällt nicht allen so schwer. Der Wandel ist im Gange, wenn auch in unterschiedlichen Tempi. Ich beobachte ihn vor allem in den Städten, bei Frauen und insbesondere in jüngeren Altersgruppen. Für sie ist Fleisch so normal, dass sie schon wieder locker darauf verzichten können und wollen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Themen wie Klimawandel, persönliche Gesundheit, Tierethik sind omnipräsent und können nicht mehr ausgeblendet werden.

Mangold
Bei der Produktion von Lebensmitteln sind in den vergangenen Jahren Alternativen zum Anbau auf dem Feld entstanden. Vertical-Farming und Indoor-Farming zeigen, dass Obst und Gemüse auch auf kleinen Flächen in Innenräumen wachsen – so wie der Mangold hier im Bild.
AP/David Goldman

STANDARD: Wo liegt Ihres Erachtens die größte Hürde beim Wandel der Ernährung?

Rützler: Das Problem ist, dass sich die Diskussion fast ausschließlich an der Reduktion des Fleischkonsums festmacht – und damit implizit Verlustängste provoziert – statt an den kulinarischen Möglichkeiten und Vorteilen eines höheren Anteils pflanzlicher Lebensmittel. Fleisch ist ein mächtiger Trigger, es war in unserer Esskultur immer die Leitsubstanz, das Herzstück, das definiert hat, was zur Beilage wird. Wir können uns auf individueller Ebene heute finanziell fast alle leisten, täglich Fleisch zu essen, weil es durch die existierenden Produktionsstrukturen so günstig ist. Aber auf gesellschaftlicher Ebene können wir es uns eigentlich nicht mehr leisten, weil die versteckten ökologischen und medizinischen Kosten inzwischen den Nutzen übersteigen und den Klimawandel anschieben.

STANDARD: Sie haben als erste Laborfleisch gekostet, was hat sich in diesem Bereich seither getan?

Rützler: Vor zehn Jahren war das Burger-Patty aus im Labor gezüchteten Rinderzellen noch eine Sensation. Heute kann man in einigen ausgewählten Restaurants in Singapur, den USA und in Israel schon weitere Cultured Meat-Produkte verkosten und in der Schweiz, in Großbritannien und Deutschland warten sie auf die Zulassung. Plant-based, also pflanzliche Fleisch- und Milchersatzprodukte gibt es schon in allen Supermärkten. Plant-based, also pflanzliche Fleisch- und Milchersatzprodukte gibt es schon in allen Supermärkten.

STANDARD: Bei diesen pflanzenbasierten Alternativen ist die Entwicklung schon weiter. Was finden Sie in diesem Bereich interessant und zukunftsfähig?

Rützler: Mit der Präzisionsfermentation eröffnen sich in Zukunft ganz neue Wege, die sensorische Qualität diese Produkte massiv zu steigern und zugleich die Liste der Inhalts- und Zusatzstoffe zu reduzieren. Die ersten Generationen von Fleischersatzprodukten waren meistens auf Sojabasis, aktuell sind es vermehrt Erbsen oder andere Hülsenfrüchte. Auch Algen und Pilze – vor allem das Myzel – haben großes Potenzial. Nun sind – aus meiner Sicht zu früh – auch die großen Lebensmittelunternehmen und der Handel mit Eigenmarken in den Markt für alternative Proteine eingestiegen.

STANDARD: Was daran ist problematisch?

Rützler: Damit wird der Markt früher als erwartet als gesättigt angesehen, und das bedeutet, dass weniger Produktinnovationen auf den Markt kommen und es für neue Konzepte und neue Marken schwieriger wird. Die Produktvielfalt wird dadurch reduziert. Zudem bewegen sich Eigenmarken meist im mittleren und unteren Preissegment und sind eine starke Konkurrenz für bessere, meist aber auch teurere Produkte – insbesondere in Zeiten der allgemeinen Teuerung, wo Menschen stärker aufs Geld schauen. So können sich Qualitäten durchsetzen, die sensorisch nicht die Besten sind.

Fleischloser Burger
Fleischersatzprodukte entstehen inzwischen aus mehr als nur aus Soja. Als Basis dienen inzwischen auch Erbsen und andere Hülsenfrüchte ebenso wie Algen und Pilze.
Getty Images/iStockphoto

STANDARD: Dabei würden mehr Optionen die Experimentierfreude und Offenheit der Konsumentinnen und Konsumenten wohl erhöhen.

Rützler: Ja, und für die Ernährungswende brauchen wir mehr Alternativen, denn vielen fehlt es noch an Fantasie, was man essen könnte, wenn man versucht etwas weniger Fleisch zu essen. Zu sagen, Hightech und Verarbeitung ist prinzipiell schlecht und nur traditionelle Lebensmittel sind gut, da machen wir es uns zu einfach. Auch Tradition ist in Bewegung und lebt nur dann, wenn sie auf Wandel reagiert. Es geht dabei ja nicht prinzipiell gegen Fleisch. Ein größeres und besseres Angebot an Alternativen könnte auch den Umbau hin zu einer reduzierteren, nachhaltigeren, ökologischeren und klimafreundlicheren Fleischproduktion erleichtern.

STANDARD: Sie verfassen jährlich den Food-Report und identifizieren darin neue Foodtrends. Welcher ist für Sie derzeit am spannendsten?

Rützler: Foodtrends sind für mich immer Antworten auf Probleme, sie signalisieren Lösungen und spiegeln Wünsche und Sehnsüchte. Wir haben in Zeiten multipler globaler Krisen und Inflation eine ganz starke Sehnsucht hin zu mehr Regionalität, die aber nicht zwangsläufig zurück in die Vergangenheit zu idyllisch überzeichneten Bildern führen muss, sondern auch in die Zukunft. Ein Foodtrend, an dem man das sehr schön sehen kann, ist Local Exotics.

STANDARD: Was ist der Kern von Local Exotics?

Rützler: Local Exotics antizipieren den Klimawandel und lösen zugleich ein kulinarisches Paradoxon. Dass wir einerseits mehr regionale Lebensmittel konsumieren, aber gleichzeitig nicht auf die kulinarische Vielfalt verzichten wollen, die uns die Welt zur Verfügung stellt. Immer mehr Landwirtinnen, Fischzüchter und Gemüsebäuerinnen wagen sich auch in Österreich an den Anbau und die Zucht von Pflanzen und Tieren, die noch vor Kurzen nur über weite Transportwege zu uns kamen. Heute wachsen Oliven, Zitronen, Wasabi, Erdnüsse und Artischocken bei uns und in Aquakulturen werden Garnelen, Wolfsbarsche und andere exotische Meeresfrüchte gezüchtet.

STANDARD: Man wünscht sich also Regionalität und zugleich Annehmlichkeiten wie Südfrüchte und Meerestiere?

Rützler: Ja, die neuen Geschmackswelten haben wir durch Reisen und Restaurants kennen und lieben gelernt, und andererseits ist es auch der Disruption der Globalisierung geschuldet. Diese erfährt durch die Krisen erstmals seit Jahrzehnten wieder eine Zäsur. Ein schief stehendes Schiff im Suezkanal und die Preise steigen. Terroristische Angriffe an einer Meeresenge und die Welt wird erpressbar. Das sind Abhängigkeiten, die wir nicht sehen wollten und gut ausgeblendet haben. Jetzt merken wir, wie angreifbar und abhängig wir sind und auch die Themen Lebensmittelsicherheit und Ethical sourcing – Stichwort Lieferkettengesetz – gewinnen wieder an Fahrt.

Tomaten
Beim Foodtrend "Local Exotics" werden Lebensmittel, deren Ursprung nicht in unseren Breiten liegt, dennoch lokal gezogen. Dabei kann es sich um Tomaten und Erdnüsse ebenso handeln wie um exotische Meeresfrüchte.
Nicole Heiling

STANDARD: Lässt sich dieses verworrene Netz noch aufdröseln oder überhaupt durchschauen?

Rützler: Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten in der Lebensmittelproduktion fast alles standardisiert und nach Handelsklassen orientiert. Nun wird mit der Herkunftskennzeichnung und Kriterien, um gewisse Werte in der Produktionskette sicherzustellen, noch eines draufgesetzt. Grundsätzlich ist das sinnvoll, aber es gibt viel Widerstand, weil es sehr aufwendig ist, diesen Auflagen nachzukommen. Vor allem bei verarbeiteten Produkten wird es immer schwieriger festzustellen, woher die einzelnen Komponenten kommen und für welche ethischen Standards oder Umweltstandards sie stehen.

STANDARD: Wen sehen Sie in der Pflicht, hier Veränderungen anzustoßen?

Rützler: Es geht nur gemeinsam, und wir brauchen eine Neuausrichtung des gesamten Lebensmittelsystems. Allein auf einen aufgeklärten Konsumenten zu warten ist zu wenig. Es braucht neue Strukturen und veränderte Agrarförderungen, innovative Kooperationsformen zwischen Landwirtschaft, Handel und Gastronomie.

STANDARD: Wie kann das konkret gestaltet werden?

Rützler: Köche und Köchinnen könnten uns zeigen, welches kulinarische Potenzial in der Vielfalt an Pflanzen steckt und Landwirte animieren, diese gezielt anzubauen. Agrartechnologen können darüber informieren, welche Art von Produktion in welcher Region bei welcher Bodenqualität und welchen klimatischen Bedingungen zukunftsfit ist. Die Politik kann Landwirten mit mutigen Zielvorgaben und daran angepassten Förderstrukturen Planungssicherheit bieten. Angst zu schüren, dass man uns das Schnitzel nehmen will, ist kontraproduktiv.

STANDARD: Angst ist aber ein starker Gegner, wenn man argumentativ vorankommen will.

Rützler: Es geht nicht darum, gegen die Angst zu arbeiten, sondern jene, die von ihr blockiert werden, mitzunehmen in diesen Diskurs. Was mich sehr beschäftigt, ist der bäuerliche Raum. Landwirte und Landwirtinnen sehen sich selbst meist als Traditionsträger. Gleichzeitig ist das Wissen, dass die Landwirtschaft zu den wichtigen Treibern des Verlustes biologischer Vielfalt und anderer Umweltprobleme gehört, seit Langem gut abgesichert, ebenso wie die Tatsache, dass wir den Fleischkonsum verringern müssen. Aber wenn das öffentlich gesagt wird, fühlen sich Landwirte und Landwirtinnen persönlich herabgewürdigt. Kritik am Ernährungssystem kommt hier als persönlicher Angriff an. Dabei sind sie ja Teil des Systems, unter dem sie selbst leiden.

Bauernproteste
Dieses Plakat war bei einer Demonstration vor dem Bahnhof Hamburg-Dammtor zu sehen.
APA/dpa/Christian Charisius

STANDARD: Diese prekäre Lage gipfelte und gipfelt in oft heftigen Bauernprotesten. Welche Lösungen braucht es?

Rützler: Der Frust ist mehr als verständlich, und hier braucht es mehr Dialog und Auseinandersetzung, damit Bauern aus dieser Situation herauskommen, in der Druck von allen Seiten kommt. Der Konsument möchte, dass sie alles besser machen, gleichzeitig sollen sie ihre Produkte zu Preisen verkaufen, bei denen sie schon sagen: Das geht sich nicht mehr aus. Landwirte haben das Gefühl, sie müssen immer mehr und immer billiger produzieren und sie kommen aus dieser Spirale nicht raus. Aber um rauszukommen, müssen sie sich als Teil des Wandels begreifen.

STANDARD: Braucht es mehr Unterstützung, um die Landwirtschaft erhalten zu können?

Rützler: Um sie weiterentwickeln zu können. Wir haben einige Regionen, in denen sich Wassermangel abzeichnet oder schon deutlich spürbar ist. Das lässt sich nicht mit Wasserleitungen lösen, da braucht es neue Konzepte. Auch beim Boden muss man schauen, wie man die Resilienz fördern kann, damit er besser mit Dürreperioden und Starkregen zurechtkommt. In der Schweiz ist das ein großes Thema, es gibt regionale Pläne und Erhebungen, wo es Böden in guter Qualität gibt und welche Regionen gefährdet sind. Man fragt sich, was wo sinnvollerweise angepflanzt wird und mit welchen Methoden. Das sind Themen, mit denen wir uns lange nicht mehr auseinandergesetzt haben.

STANDARD: Warum eigentlich?

Rützler: Landwirtschaft war lange vor allem eine Sache des Ertrags, mehr Ertrag, mehr Geld. Bauern und Bäuerinnen haben aufgrund von Förderungen, Angebot, Abnahmegarantien oder Preishoffnungen entschieden, was sie anbauen. Aber Wachstum allein ist keine Option mehr, es braucht neue, nachhaltigere Visionen. Es ist zu wenig, nur zu wissen, was nicht mehr geht. Aber neue Ideen und Konzepte aus der Agrartechnologie, Digital-Farming und der zellulären Landwirtschaft werden zu zaghaft aufgegriffen und von einer konservativen Standespolitik nicht ausreichend gefördert. Wohin wollen wir unsere Esskultur und die regionale Landwirtschaft weiterentwickeln? Wie können wir uns zukunftsfit machen und dabei den Klimawandel eindämmen? Diese Diskussionen kommen meiner Ansicht nach immer noch zu kurz. (Interview: Marlene Erhart, 10.3.2024)