Sven Regener
Durch das Hörbar-Machen der Literatur entsteht eine eigene Magie, findet Sven Regener.
StandArt

Vor 100 Jahren starb Franz Kafka. Zu den Bewunderern seines Werks gehört auch der deutsche Musiker und Autor Sven Regener (Herr Lehmann, Wiener Straße). Mit einer vierteiligen Lesung im Wiener Rabenhof erweist er dem Prager Weltliteraten die Ehre.

STANDARD: Der Metaphysiker Franz Kafka scheint ein wenig ins Abseits geraten. Viele konzentrieren sich heute lieber auf den "Bruder Kafka": den Familiengeschädigten mit seinen diversen Schrullen. Was ist Ihr Zugang?

Regener: Zunächst bin ich einfach dafür, dass man ihn liest, und zwar laut, weil sich dann mehrere Ebenen in seinem Werk erschließen. Nehmen wir seine Erzählungen und Romanfragmente so, wie sie sind! Wenn sich Gregor Samsa in einen Käfer verwandelt, wird er ganz einfach – zum Käfer. Dabei habe ich gegen Exegeten, die sich um die Erschließung der Bedeutungen bemühen, gar nichts einzuwenden.

STANDARD: Sie bedürfen Ihrer nicht?

Regener: Jeder, der Kafka liest, spürt, dass sich dahinter etwas verbirgt. Dieses Etwas ist nur nicht anders benennbar, als Kafka es tut. Sein Werk ist so zu nehmen, wie es ist. Es muss nicht gleich in etwas anderes übersetzt werden. Das ist mir auch zu kunstfeindlich, das nervt mich. Das haben die Lehrerinnen und Lehrer mit uns gemacht, wenn sie von uns forderten: Schreibt einen Aufsatz darüber, was er eigentlich meint! Vielleicht meint Kafka in seiner Erzählung vom Kübelreiter bloß, dass der Kübelreiter, weil es so kalt ist, auf seinem Kohlenkübel davonreitet.

STANDARD: Wir sollten mehr auf Kafkas Wortlaut vertrauen?

Regener: Der deutsche Germanist Michael Maar hat gesagt, bei Kafkas Welt handle es sich um eine Art Paralleluniversum. Das ist eine sehr gute Beschreibung. Und auf dieses Paralleluniversum sollte man neugierig sein. Interpretation schön und gut, aber sie stellt keine Bedingung dar, um sich am Werk Franz Kafkas erfreuen zu können. Man kann in diesem Universum unendlich viel Spaß haben und das Staunen erlernen. Man muss es nicht noch anders benennen.

STANDARD: Neuerdings hat man den Humoristen Kafka entdeckt. Was hat es damit auf sich?

Regener: Es gibt viele absurde Seiten, die von ihm gnadenlos ausgereizt werden. Ein gutes Beispiel ist für mich das fünfte Kapitel aus Das Schloss. Darin versucht der Amtsvorsteher, K. zu erklären, wie alles so gekommen ist, wie es gekommen ist. Dass K. nämlich zum Landvermesser bestellt worden ist, obwohl man ihn gar nicht gebraucht hat. Und dass das kein Fehler war, obwohl es natürlich ein Fehler gewesen ist. Es kann aber gar kein Fehler gewesen sein, weil die Behörde grundsätzlich keine Fehler begeht. So dreht er seine Pirouetten. Natürlich ist das hochkomisch. In einer solchen Groteske steckt viel Wahrheit. Wie immer, wenn etwas, was nicht sein kann oder darf, doch so gewesen ist.

STANDARD: Man kann es wahlweise auch als traurig oder tragisch empfinden.

Regener: Das deprimierendste Buch ist Der Process, aber es kommen darin grandiose Slapstickszenen vor, wie aus einem Buster-Keaton- oder Charlie-Chaplin-Film. Da rennen Anwälte die Stiegen hoch, um vor dem Gericht vorgelassen zu werden, und werden die Treppe wieder hinuntergeworfen, und das wiederholt sich bis zur allgemeinen Erschöpfung, solche Sachen. Das hat schon was sehr Komisches, aber ich möchte nicht sagen, dass Humor oder Komik die wichtigsten Stilmittel bei Kafka wären. Sie stellen sich eher wie beiläufig ein, manchmal unfreiwillig. Bei Kafka finden wir eine sich auftürmende Erregung, ein Nicht-locker-lassen-Können der Figuren. Diese steigern sich in ihre Gedanken förmlich hinein. Das hat tragische wie komische Züge. Nur: Kafka als Witzbold, das bringt doch auch nichts.

STANDARD: Das neuerdings grassierende Interesse an der Privatperson Kafka teilen Sie?

Regener: Mit dem Vortrag von Kafka-Texten verhält es sich wie in der Musik. Ich lese einen Text, interpretiere ihn, bringe ihn zu Gehör. Der dieser Sprache innewohnende Klang, die Musik in Kafkas Texten, halte ich für außerordentlich. Gewisse Dinge gewinnen durchs Vorlesen eine eigene Magie. Wie schlau man nun ist, wie gebildet auf allen seinen biografischen Wegen: Das ist außerordentlich interessant, erhellt das Werk aber nicht. Nimmt man die Biografie her, um mit ihrer Hilfe zu erklären, warum er das alles so geschrieben hat, verkleinert man schon wieder das Werk. Als ob er vornehmlich Privatprobleme irgendwie verarbeitet hätte.

STANDARD: Hatte er nicht?

Regener: Die Texte weisen deutlich über so etwas hinaus. Jede gescheite Kunst weist über ihren Künstler hinaus. Kafkas Dichtung ist in gewisser Weise so abstrakt wie absolute Musik. Natürlich freue ich mich sehr auf die Kafka-Serie von David Schalko und Daniel Kehlmann, aber ich erwarte nicht, dass ich nachher das Werk besser verstehe. Mich interessiert an Kafka das Werk und als Vorlesender vor allem der Klang, der Rhythmus, die Musik, die seiner Prosa innewohnt, das Lied, das er singt. Darum bin ich damals, das ist nun schon einige Jahre her, auf die Idee gekommen, Kafkas Werk auf Hörbüchern einzulesen. Durchs Hörbar-Machen entsteht eine andere Magie, ich kann es nicht anders sagen.

STANDARD: Was nimmt der Prosaautor Regener mit in den Romankosmos, wenn er Kafka gelesen hat?

Regener: Den Mut zum eigenen Sound. Im ersten Kapitel in Amerika, im "Heizer", kommt die "Freiheitsgöttin" vor, die – entgegen ihrem New Yorker Vorbild – statt der Fackel ein Schwert trägt. Das ragt, schreibt Kafka, "wie neuerdings" empor. "Wie neuerdings"? Was soll das heißen? So etwas gefällt mir. Man lernt, dass das Zulassen eines eigenen Stils viel wichtiger ist, als Regeln zu folgen, die andere aufgestellt haben. Kafka bestärkt den Eigensinn, das ist inspirierend. (Ronald Pohl, 5.3.2024)