Werner Herzog
"Ich, Herzog Werner, geboren 1942, sage, dass sich Wahrheit, eine tiefere Schicht von Wahrheit, nur erreichen lässt durch Stilisierung, Inszenierung und Erfindung. Ich nenne es die ekstatische Wahrheit."
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Wenn man es laut einer Redensart mit der Wahrheit nicht so genau nimmt, bedeutet das nicht gleich, dass man lügt. Neben der Frage der Perspektive, entwicklungspsychologisch bedingten verschiedenen Wahrnehmungen der beteiligten Personen und Kulturkreise und einem gewissen Hochmut, der bekanntlich bis zum Realitätsverlust führen kann, geht es ja nicht unbedingt darum, Wahrheiten zu finden.

Laut Werner Herzog geht es darum: "Wahrheit scheint mir eher als eine immerwährende Bemühung, sich ihr anzunähern. Als Bewegung auf sie zu, als ungewisse Reise, als Suche voll Mühe und Vergeblichkeit. Aber diese Fahrt ins Ungewisse gibt uns Sinn und Würde, sie ist es, die uns von den Kühen auf der Weide unterscheidet."

In seinem neuen Buch Die Zukunft der Wahrheit unternimmt der 81-jährige deutsche Regisseur nicht etwa die Erkundung eines in der Geschichte der Menschheit arg belasteten Begriffs. Wahrheit kennen wir als geschundenes und vor allem von notorischen Lügnern und Regimen, offiziell anerkannten Kulten sowie von der Amtskirche weniger geachteten Sekten inflationär gebrauchtes Wort. Es absolviert öffentliche Auftritte gern gemeinsam mit der Unschuldsvermutung.

Werner Herzog hat sich seine Wahrnehmung schon lange vor diesem späten literarischen Werk zurechtgelegt: "Ich, Herzog Werner, geboren 1942, sage, dass sich Wahrheit, eine bestimmte, tiefere Schicht von Wahrheit, nur erreichen lässt durch Stilisierung und Inszenierung und Erfindung. Ich nenne es die ekstatische Wahrheit."

Antike Fake-News

Um zur Wahrheit zu gelangen, müsse man sich nicht unbedingt an Tatsachen halten. Herzog, der seinen schmalen Band auch als im bayerischen Akzent mit brüchiger Stimme raunender alter Weiser am Lagerfeuer als unbedingt zu empfehlendes Hörbuch eingesprochen hat: "Wenn Fakten alleine zählten, wäre das Telefonbuch das Buch der Bücher."

Herzog durchstreift auf seiner Reise mit dem Weg als Ziel dafür die Geschichte. Er findet gemachte, allerdings von willigen Gläubigen geglaubte Wahrheiten als erstmalig dokumentierte Fake News 1274 vor Christus bezüglich der Schlacht von Kadesch. In der schlug der ägyptische Pharao Ramses II. angeblich die Hethiter vernichtend. Was die Hethiter allerdings ganz anders sahen. Ebenso gibt es zwei abweichende Versionen des in der Folge geschlossenen Friedensvertrags. Beide Parteien berufen sich dabei auf diverse Götter als Zeugen und Bürgen. Wir sehen, wir befinden uns fast schon in der heutigen Zeit.

In der Kunst ist für den nach wie vor zornigen Verächter des Cinéma Vérité ohnehin alles erlaubt. Um zur tieferen, der ekstatischen Wahrheit zu gelangen, darf diese auch mit dem Mittel der Lüge erzählt werden. Sein magischer Dokumentarismus hat literarisch ja auch schon bei seiner Vorgängerarbeit gegriffen. 2021 veröffentlichte er mit Das Dämmern der Welt seine Annäherung an das Leben des japanischen Soldaten Onoda Hiroo.

Die große Oper

Der Mann bekam 1945 während eines Sabotageeinsatzes auf einer Insel der Philippinen nichts vom Ende des Zweiten Weltkriegs mit. Er wurde erst 1974 aus seiner "Pflicht" erlöst, in der er 30 Menschen getötet und über 100 verletzt hatte, nachdem ihn ein extra eingeflogener ehemaliger Vorgesetzter dazu persönlich hatte überreden können, der jahrzehntelangen "Feindpropaganda" vom Frieden zu trauen.

Herzog damals zu diesem von ihm als mythische Geschichte gesehenen "Fiebertraum im Dschungel": "Viele Details stimmen, viele stimmen nicht. Dem Autor kam es auf etwas anderes an, auf etwas Wesentliches ..." Der Künstler verdichtet das Mysteriöse, das Eigentliche, das sich im Uneigentlichen versteckt. Lügen sind legitim, sie müssen nur kenntlich gemacht werden.

Herzog verachtet natürlich auch alles Psychologische und liebt die Oper: "Die Gefühle der Großen Oper kommen in dieser Art eigentlich gar nicht in der Natur, der Menschennatur, vor, aber wir besetzen diesen 'undenkbaren' Kern mit der vollen Bandbreite von Gefühlen, die auf geheimnisvolle Weise irgendwie echt erscheinen, wahrhaftig."

Oder, um es mit Wolfgang Ambros zu sagen: " A klana Bua spüht si im Sand / Er lacht und baut mit ana Hand / Die Pyramiden von Gizeh –Die Woaheit is so weiß wie Schnee." (Christian Schachinger, 6.3.2024)

Werner Herzog, "Die Zukunft der Wahrheit". € 22,70 / 112 Seiten. Hanser, München 2024