200 Meter hoch und ein Blickfang: ein
200 Meter hoch und ein Blickfang: ein "Three Chimneys" genanntes einstiges Kraftwerk am Stadtrand.
Eva Carasol

Wie eine Weltraumstadt oder ein Lego für Riesen stehen die drei Türme des 2011 stillgelegten Kraftwerks von Sant Adrià de Besòs bei Barcelona da: enorm und verspielt zugleich, wenn man vor ihnen steht und fast erwartet, dass Willy Wonka heraustritt, um einen willkommen zu heißen. Mit 200 Metern Höhe messen sie etwa 25 Meter mehr als der zentrale Turm von Antoni Gaudís Sagrada Família, wenn diese dereinst fertiggestellt sein wird, und sind so das höchste Gebäude der Stadt. Tagsüber sieht man sie von weitem, nachts ihre Spitzen rot leuchten. Trotzdem verirren sich bisher keine Touristen und Einheimischen in dieses städtische Randgebiet. Es war bisher ja auch nicht betretbar.

Das soll sich nun ändern. Eine Bürgerpetition in dem Arbeiterviertel hat sich vor ein paar Jahren gegen den Abriss der lieb gewonnenen "Tres Xemeneies" (die katalanische Aussprache von "Three Chimneys", also "Drei Schornsteine") gewehrt, nun werden Pläne für eine Nutzung mit Park, Sozialwohnungen und zwecks Belebung kleinen Produktionsbetrieben erarbeitet. Zudem sei das hier "der letzte freie Kilometer Strand", sagt Josep Bohigas, Architekt und Ex-Direktor des Strategieplans für die urbanistische Entwicklung Barcelonas. Es soll ein Ort der Gemeinschaft werden.

Zwölf Wochen lang Problemlösung

Zuvor zieht hier aber von September bis November die 15. Ausgabe der Manifesta ein, um die Brache mit Kunst zu bespielen. Wobei: Wer mit den Organisatoren des alle zwei Jahre in einer anderen europäischen Stadt stattfindenden Festivals spricht, bekommt erst sehr spät die Begriffe "Kunst", "Künstler" oder "Ausstellung" zu hören – Namen werden erst im April vorgestellt. Davor fallen Worte wie: Stadt, Region, Bevölkerung, Architekten, Transformation, Natur, Klimawandel, Lernen. 1993 gegründet, hat sich das Festival allmählich immer mehr von einem Ort für zeitgenössische Kunst hin zu einem für zeitgenössische Fragen und Probleme entwickelt, unter Berücksichtigung des je Ortsspezifischen – und entspricht damit einem Trend, den man hierzulande heuer auch im Rahmen der Kulturhauptstadt Salzkammergut beobachten kann. 2022 wurde in Prishtina etwa die Geschichte und Zukunft des Balkan anvisiert, in Marseille beackerte man 2020 kurzfristig die Pandemie.

Das Manifesta-Hauptquartier findet sich in Barcelona im ehemaligen Verlagshaus Gustavo Gili, einer modernistischen Architekturikone aus den 1950ern. Zuletzt war hier in drei Kellerstockwerken ein Amazon-Lager untergebracht. Nach der Manifesta sollen Büros des Kulturstadtrats einziehen. Derweil näht hier eine Künstlergruppe Tapisserien gegen Gewalt, für Freiheit und Mikroorganismen.
Das Manifesta-Hauptquartier findet sich in Barcelona im ehemaligen Verlagshaus Gustavo Gili, einer modernistischen Architekturikone aus den 1950ern. Zuletzt war hier in drei Kellerstockwerken ein Amazon-Lager untergebracht. Nach der Manifesta sollen Büros des Kulturstadtrats einziehen. Derweil näht hier eine Künstlergruppe Tapisserien gegen Gewalt, für Freiheit und Mikroorganismen.
Inti Gajardo

In Barcelona hat man seit vergangenem Jahr mit zehn lokalen Gruppen gearbeitet, die drängende Themen vor Ort aufgespürt haben. Daraus wurden die drei Schwerpunkte "Heilen und kümmern", "Konflikte ausbalancieren" und "Zukünfte vorstellen" dieser Ausgabe geformt. So abstrakt und vielleicht auch großspurig diese Kategorien klingen mögen, so konkret sind aber die Projekte darin, besonders im städtebaulichen Problemfeld. Bei vielen setzt die Manifesta wie ein Katalysator auf bereits bestehenden Initiativen auf.

Josep Bohigas engagiert sich etwa auch für eine Rückgewinnung der zu einem Großteil vom Fracht- und Kreuzfahrthafen eingenommenen städtischen Küstenlinie. "Wir müssen diese Teile der Stadt für die Bevölkerung zurückerobern", sagt er mit Blick vom 173 Meter hohen Montjuïc. Im ersten Schritt würde er während der Manifesta wochenends gerne die Autobahn, die als einzige öffentliche Fläche zwischen dem wichtigsten Hafen Spaniens und Barcelonas Hausberg verläuft, für Fahrräder öffnen. Für die Zukunft hofft man, die Autobahn unter die Erde zu verlegen und Barcelona am Berg einen "Balkon" zu schenken.

Nachbarschaft und Gemeinschaft

Dem Nachbarschaftsprojekt Muhba Bon Pastor finanziert die Manifesta eine Mitarbeiterin für die Restaurierung von Ausstellungsobjekten. Es handelt sich dabei um ein Arbeiterviertel in der Stadt, dessen alte Häuserzeilen nicht trockenzukriegen waren. Die Bewohner zogen in angrenzende neue Wohnungen, und Barcelona förderte die Einrichtung eines partizipativen Museums zu Fragen von Gemeinschaft. Vor der Manifesta schon fühlte man sich Ideen für ganz Europa verpflichtet. Nun will man den sich durch die Stadt schneidenden Besos-Fluss zu einem Korridor für Kultur und Wissenschaft transformieren.

Die ehemalige Fabrik Can Trinxet in L'Hospitalet de Llobregat wird inzwischen für Kulturveranstaltungen und Ateliers genutzt.
Die ehemalige Fabrik Can Trinxet in L'Hospitalet de Llobregat wird inzwischen für Kulturveranstaltungen und Ateliers genutzt.
Can Trinxet/Manifesta 15

Nicht die Manifesta bittet Städte darum, sie zu beherbergen, sondern Städte bewerben sich darum mit einer Liste von Zielen und Anliegen. Städte – und 2026 mit dem Ruhrgebiet eine ganze Region – holen sich mit dem Festival also gewissermaßen ein kreatives Consultingunternehmen ins Haus. Österreich war noch nie Standort. Bewerbungen gab es wohl, und zudem war Manifesta-Chefin Hedwig Fijen vor der Pandemie mit Wien bezüglich einer gemeinsamen Austragung mit Bratislava im Gespräch. Ein Wiener Lokalpolitiker mochte die Pläne allerdings nicht, erinnert sich Fijen.

Beteiligung der Umgebung

Im Fall Barcelonas erfolgte die Bewerbung unter der damaligen linken Bürgermeisterin und vormaligen Aktivistin Ada Colau i Ballano. Was die nun sozialistische Stadtregierung davon für die 1,5-Millionen-Stadt und das Umland (mit der Stadt über fünf Millionen Einwohner) mitnehmen wird, wird sich zeigen. Auch Städte rund um Barcelona werden Schauplatz sein. In Mataró wird man ein altes Gefängnis bespielen, in Sant Cugat de Vallès soll es in einem Kloster darum gehen, was vor dem Hintergrund mönchischen Lebens neue Modelle für Mental Health sein können.

Auch die Kirchenanlage La Seu d'Ègara in Terrassa nahe Barcelona ist Schauplatz der Manifesta.
Auch die Kirchenanlage La Seu d'Ègara in Terrassa nahe Barcelona ist Schauplatz der Manifesta.
Manifesta 15

Rund 60 Künstler sollen teilnehmen, alle Arbeiten entstehen neu. 8,9 Millionen Euro beträgt das genehmigte Budget. Neben alten und neuen Besucher-Hotspots wird auch ein Unort bespielt: Alle zwei Minuten hört man im Mündungsgebiet des Llobregat-Flusses südlich von Barcelona Flugzeugtriebwerkdonner des angrenzenden Flughafens. Dessen Kapazitäten sollen von 50 auf 70 Millionen Passagiere ausgebaut werden. Eine Katastrophe für das Naturschutzgebiet, fürchtet man.

Die Manifesta 15 stellt eine andere Seite der Tourismusdestination vor. Die Tres Xemeneies werden sicher ein Magnet. Dort hinzugehen, wo es nicht spektakulär, sondern nur prekär ist, wird sich aber gewiss auch lohnen. (Michael Wurmitzer aus Barcelona, 7.3.2024)