"Gut genug", antwortet die Schriftstellerin Lore Segal auf die Frage, wie es ihr geht. Die 96-Jährige arbeitet jeden Tag ab sieben Uhr morgens bis Mittag an ihrem Schreibtisch, auch am Wochenende. "Manchmal schiebe ich nur einen Beistrich hin und her, manchmal fließt es", meint die Autorin von fünf Romanen und zahlreichen Kurzgeschichtensammlungen. In ihren Werken verarbeitet sie unter anderem ihre Kindheit und Flucht aus Wien wie in Other People's Houses, Neuanfänge in New York City in Her First American oder einen emotionalen Besuch in Wien in der Kurzgeschichte I wanted to love it, but I didn't dare. Von der amerikanischen Presse wurden ihre Werke außerordentlich positiv rezensiert. Viele Kurzgeschichten wurden in der renommierten Zeitschrift The New Yorker publiziert. "Lore Segal ist dem Schreiben des großen amerikanischen Romans vielleicht näher gekommen als jeder andere”, schreibt die New York Times Book Review. Ihre Kurzgeschichtensammlung Shakespeare's Kitchen wurde für den Pulitzerpreis nominiert.

Lore Segal in ihrer New Yorker Wohnung.
Die in Wien geborene Schriftstellerin Lore Segal in ihrer New Yorker Wohnung.
Foto: Manuel Rusca

Seit 60 Jahren lebt Segal in ihrer gemütlichen und lichtdurchfluteten Wohnung auf der Upper West Side in Manhattan. "New York ist mein Amerika. Ich bin keine Amerikanerin. Ich bin eine New Yorkerin", sagt sie. Und: "In New York muss man nur ein New Yorker sein. Bevor du nach Chicago ziehst, musst du Amerikaner werden." Von ihrem Wohnzimmer aus hat man einen typischen New Yorker Ausblick über die Dächer der Pre-War-Gebäude der Gegend mit ihren Wassertürmen. Dahinter ragen die neu gebauten Pencil Towers am Südende des Central Parks hoch in den Himmel. "Im Hintergrund sieht man sogar die Spitze des Empire State Building, ganz klein", sagt Segal mit ein wenig Stolz. Dekoriert ist die Wohnung mit afrikanischen Masken, Holzstatuen, einer Flaschensammlung und moderner Kunst. Zahlreiche Bücherregale, Pflanzen und ein Flügel runden das Bild ab. Zunächst hat sie hier mit ihrem Mann David und zwei Kindern gelebt. In Kürze wird ihr 25 Jahre alter Enkelsohn in ihrem Arbeitszimmer einziehen.

Lore Segal, geborene Groszmann, kam am 8. März 1928 in Wien zur Welt. Sie wuchs in der Josefstadt als Einzelkind in einer bürgerlichen, jüdisch-säkularen Familie auf. Vater Ignatz war Buchhalter, Mutter Franzi zeitweilige Klavierlehrerin. "Meinen zehn Geburtstag feierte ich vier Tage bevor Hitler einmarschierte", erzählt Segal nachdenklich. Nachdem die Wiener Wohnung von den Nationalsozialisten beschlagnahmt worden war und jüdische Kinder in segregierten Klassen unterrichtet wurden, zog die Familie nach Fischamend, wo die Großeltern ein Geschäft betrieben. Hier sah sich die Familie mit dem Antisemitismus der Bevölkerung konfrontiert: Freunde oder Kinder der Nachbarschaft wandten sich gegen die Familie, stahlen Eigentum, warfen Steine gegen Fenster und vandalisierten und konfiszierten Familiengeschäft und Wohnung.

Segal wurde schließlich am 10. Dezember 1938 von ihren Eltern mit einem Kindertransport nach Großbritannien geschickt. Sie konnte beim Abschied nicht weinen, worüber sie sich wunderte. "Ich befürchtete, ein Ungeheuer zu sein, weil ich nicht weinte", schreibt sie darüber. Ihre Mutter zwang sich zu einem Lächeln, als ob sie miteinander scherzten. "Im Alter von zehn Jahren sagte ich mich von einem Schmerz und einer Trauer los, die unfassbar waren, und beschloss, in diesem Abschied den Beginn eines spannenden Abenteuers zu sehen: 'Wie aufregend!' redete ich mir selbst ein. 'Ich fahre nach England!' Es war eine gute Überlebensstrategie, den Preis dafür sollte ich jedoch noch bezahlen." Danach verbrachte Segal acht Jahre in den Häusern verschiedener Familien, worüber sie in ihrem Buch Other People's Houses erzählt, das 1964 in den USA veröffentlicht wurde.

Frühe Schreibanfänge

Segal betont im Gespräch immer wieder, dass sie Schriftstellerin und nicht Historikerin sei. Als den Beginn ihrer Schriftstellerkarriere bezeichnet sie einen Brief, den sie als Zehnjährige schrieb, um ihre Eltern aus Wien zu retten. "Ich habe immer gesagt, dass ich es war, die meine Eltern aus Wien rausbrachte. Aber woher weiß ich das eigentlich? Ich steckte einfach einen Brief in einen Briefkasten", meint sie über ihre damaligen, schlussendlich erfolgreichen Versuche. Ihre Eltern kamen vier Monate später mit einem Arbeitsvisum nach Liverpool. In einem Schulheft begann Segal, insgesamt 36 Seiten mit "Hitler-Geschichten" zu füllen. "Ich hatte ein lilafarbenes Heft mit einem weißen, rot umrandeten Etikett. Meine erste Pflegefamilie, die Cohens, haben nicht wirklich verstanden, was in Wien vor sich ging. Sie stellten mir Fragen und kauften mir das Notizbuch", erzählt sie über die Anfänge ihrer langen literarischen Laufbahn. "Ich dachte immer wieder: Das ist nicht gut genug, niemand wird verstehen, was ich meine. Also habe ich Sonnenaufgänge und Gewitter eingebaut", schmunzelt sie. Segal schrieb damals auf Deutsch, und eine Tochter der Pflegefamilie fand einen Übersetzer.

Schon früh wusste sie, dass sie Schriftstellerin werden wollte. Als deutschsprachige Frauen, die zu nah am Ärmelkanal wohnten, von der Küste wegmussten, holte ihre Mutter sie von der Gastfamilie ab und fuhr mit ihr nach Surrey: "Ich war krank, und meine Mutter las mir David Copperfield vor. Und ich dachte, das ist es, was ich machen will. Ich möchte Schriftstellerin werden. Ich war zwölf oder 13 Jahre alt", erzählt Segal. Ihr Onkel Paul und ihr Vater waren ab 1939 als feindliche deutschsprachige Ausländer auf der Isle of Man interniert worden. "Mein Vater erlitt dort einen Schlaganfall und starb kurz vor Kriegsende." Lore konnte wieder nicht weinen, was sie als ungeheuerlich empfand. "War ich nicht mehr imstande zu weinen?", fragte sie sich.

Lore Segal in ihrer Wohnung in Manhattan.
Lebt seit 60 Jahren an der Upper West Side Manhattans: Lore Segal.
Foto: Manuel Rusca

Segal studierte nach Kriegsende mit einem Stipendium an der University of London englische Literatur. Nach Bestehen der letzten Prüfungen reiste sie in die Dominikanische Republik, wo sich ein Teil ihrer Familie zu dem Zeitpunkt aufhielt. Diktator Trujillo in der Dominikanischen Republik, "er war nicht besser als Hitler", sagt sie über ihn, hatte erlaubt, Juden auf einer seiner Bananenplantagen in Sosua anzusiedeln. Dann starb die geliebte Frau ihres Onkels Paul. "Aber nicht so, wie ich es in meinem Buch geschrieben habe. Es schien mir zu schmerzhaft. Ich ließ sie bei der Geburt sterben." Eigentlich verstarb sie während der Schwangerschaft an einer Blutinfektion. "Mein Onkel schrieb einen ungeheuer bewegenden Brief über ihre letzten Tage, als sie ins Krankenhaus gebracht wurden. Ich konnte es nicht ertragen, darüber zu schreiben. Ich habe mir ein anderes Ende ausgedacht."

Segal verbrachte drei Jahre in der Dominikanischen Republik. "Ich war damals in England verliebt, was ich sehr bedaure. Ich war ein wenig hochnäsig. Ich wollte nicht nach Amerika. Und ich wollte auf keinen Fall in der Dominikanischen Republik leben. Ich habe natürlich Spanisch gelernt, es aber schnell wieder vergessen“, erzählt sie. Eigentlich wollte Lore nur zurück nach England. Die Familie wartete jedoch auf die Quote für Amerika. Die in Ungarn geborene Großmutter reiste als Erste im Rahmen der ungarischen Quote nach New York, Lore schließlich 1951.

Segal besuchte einen Creative Writing Kurs an der New School und realisierte bald, dass sie über das von ihr Erlebte schreiben musste. "Ich war auf einer Party und erzählte über die Kindertransporte, die mich nach England brachten. Das war meine erste Erfahrung mit der Stille in einem vollen Raum, wenn alle zuhören. Ich lauschte dieser Stille und verstand, dass ich eine Geschichte zu erzählten hatte." Auch hatte Lore Lehraufträge an der Columbia University, Princeton und in Columbus, Ohio inne. "Ich wurde eingeladen, als Gastprofessorin an der University of Illinois in Chicago zu lehren. Der Dekan fragte mich, ob ich noch ein Jahr oder für eine Festanstellung bleiben wolle. Ich sagte Nein, ich will zurück nach New York. Er sagte, nimm die Festanstellung. Das erleichtert die Buchhaltung." Sie nahm schließlich das Angebot an und blieb 14 Jahre lang. "In der Abteilung für kreatives Schreiben war ich die einzige Frau. Ich habe ihnen die Suche nach einer Frau erspart, indem ich die Anstellung akzeptierte."

Die Schriftstellerin

"Ich bin Schriftstellerin. Ich erfinde Geschichten. Ich nehme ein autobiografisches Detail und male daraus ein Bild", sagt Lore. Sie vergleicht ihren kreativen Schaffensprozess mit "The Carriage" von Nikolai Gogol: "Es gibt eine Geschichte, die ich über Gogol erzähle: Stell dir vor, du sitzt in einer Kutsche und schreibst. Du siehst ein Haus mit einer offenen Tür. Deine Vorstellungskraft geht hinein und beginnt, sich ein Bild davon zu machen. Du fängst an, ein Gespräch zwischen den Personen zu erfinden. Es hat sehr wenig mit der Realität zu tun." Sie beginnt, sich etwas vorzustellen und weiterzuentwickeln. "Es bekommt Beine, Füße und eine Augenfarbe." Segal schreibt heute am Computer, auf den sie früh umstieg. "Früher habe ich mit Bleistift geschrieben. Jemand hat mir gesagt, dass ich am Computer nicht mehr durchstreichen muss, sondern es einfach löschen kann." Ihre Dokumente und Unterlagen sind in der New York Public Library an der 42. Straße archiviert.

Viele ihrer Werke sind autobiografisch geprägt. Der Roman Her First American ist Lore Segals "Lieblingskind" und erzählt die Geschichte von ihrem Alter Ego namens Ilka Weissnix, einem jungen jüdischen Flüchtlingsmädchen aus Wien, und dessen Neuanfang in New York. Sie geht eine Liebesbeziehung mit Carter Bayoux, einem älteren schwarzen Intellektuellen und Alkoholiker, ein, der ihr Amerika erklärt. "Ich sitze in Gogols Kutsche und betrachte das jüdische Mädchen und den alkoholkranken Intellektuellen und stelle mir ihre Geschichte vor", meint Lore. "Ilka spricht wenig Englisch. Ich hatte einen Abschluss in Englisch, als ich kam." Die Geschichtensammlung Ladies' Lunch wurde im Herbst 2023 veröffentlicht, und Lore Segal gab zahlreiche Lesungen anlässlich des Erscheinens. Die 16 Geschichten handeln von Freundschaften, dem Älterwerden und Familie. Die Frauen in dem Buch sind eine reale Gruppe von Frauen. "Aber ich erfinde andere Details. Ich bin Romanautor, kein Reporter." Der Kurzgeschichtenband Shakespeare's Kitchen und der Roman Her First American werden in Großbritannien in Kürze neu herausgegeben.

Lieblingsautoren

Religiös ist Lore Segal nicht, aber die Bibel und Religion findet sie faszinierend. "Wenn ich gefragt werde, was meine Lieblingsbücher sind, nenne ich als Erstes die King-James-Übersetzung der Bibel. Aber ich habe kein Mitgefühl für Gott. Ich denke, er benimmt sich sehr schlecht." Shakespeare, Kafka, Jane Austen und Henry James zählen zu ihren Lieblingsautoren. Auch Grimms Märchen oder Rübezahl mag sie sehr.

Auf die Frage, was sie zur momentanen Lage in Israel sage, antwortet sie: "Are you kidding me? Wenn man ein Linker und ein Jude ist und will, dass Israel überlebt, gibt es keine guten Antworten. Wir sind alle sehr unglücklich." Für Präsident Biden sei die Lage gerade kompliziert. "Man muss Israel unterstützen, aber man muss ihnen auch sagen, dass sie sich benehmen sollen." Israel hat Lore Segal mehrmals besucht. Die Frontenbildung in der Diskussionsführung findet sie besorgniserregend. "Alle versuchen, ihre Positionen zu verteidigen und zu stärken. Ich bin für den Underdog, also bin ich gut. Ich bin für die Juden, also bin ich gut."

Österreich

Auf Vorschlag ihres Mannes reiste Segal zum ersten Mal 1968 nach Österreich zurück. "Es war eine tolle Erfahrung." Deutsch spricht Lore noch immer akzentfrei. "Ich spreche kindliches Deutsch. Es ist das Deutsch einer Zehnjährigen." Vor acht Jahren hat sie sogar ihre ganze Familie inklusive Enkelkinder nach Österreich mitgenommen. "Ich wollte in die Berge. Meine Familie hat sich in Wien verliebt. Die Jungs durften trinken, und sie gingen raus und kamen betrunken zurück", lacht sie fröhlich. Kinder und Enkelkinder haben alle mittlerweile die österreichische Staatsbürgerschaft angenommen, ein Schritt, den Lore selbst bisher nicht gesetzt hat. Über ihren nach der Flucht ersten Besuch in Österreich und in ihrer alten Familienwohnung schreibt sie: "Ich war kaum angekommen, als es mich aus dem Hotel auf die Straße trieb, zitternd vor Aufregung, mit verschleiertem Blick und schwachen Knien. … Ich weinte mich durch ganz Wien. 'Dabei bin ich doch gar nicht so traurig', sagte ich. 'Oh doch', sagte mein Mann." (Stella Schuhmacher, 8.3.2024)