Sie sind zu 84 Prozent Männer, im Schnitt 30 Jahre alt und zu 66 Prozent keine österreichischen Staatsbürger. Bei Vollbeschäftigung radeln sie bei jeder Witterung mit gut 20.000 Kilometern jährlich einmal um die halbe Welt. Der Kollektivvertrag sieht dafür einen Stundenlohn von zehn Euro brutto vor.

Fahrradkuriere sind aus dem Wiener Stadtbild nicht mehr wegzudenken.
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Ihre Leistung wird akkurat via GPS-Ortung kontrolliert. Aufträge und Zeitvorgaben erteilen Online-Apps. Um lukrative Schichten mittags und abends herrscht beinharter Wettbewerb. Das Risiko, sich im Straßenverkehr zu verletzen, ist hoch. Wer wegen Krankheit im Ranking abfällt, verliert den Zugang zu Bestellungen.

Fahrradboten sind aus dem Stadtbild nicht mehr wegzudenken. Am Donnerstag formierte sich eine Truppe in Wien-Alsergrund zum Protestzug. Im Kampf um höhere Löhne riefen Arbeitnehmervertreter quer durch Österreich zu Warnstreiks auf.

Kräftemessen an zwei Fronten

"Lahmlegen werden wir Wien nicht", sinniert Helmut Gruber, Landesvorsitzender der Gewerkschaft Vida. "Aufzeigen, unter welchen unwürdigen Bedingungen die Fahrer arbeiten, können wir aber sehr wohl."

Kräftemessen gibt es an zwei Fronten. Stiegen die Gehälter im Kollektivvertrag nicht parallel zur Inflation um zumindest 8,7 Prozent, zwinge man Essenszusteller in die Armut, warnt Gruber. Zugleich wolle man Kurieren bewusstmachen, dass sie "angelogen" würden: Mehr als die Hälfte von ihnen arbeitet als freie Dienstnehmer. Scheinselbstständige seien sie – allein zum Vorteil des Arbeitgebers, sagt Gruber mit Blick auf Foodora. Der Konzern stellt nur fünf Prozent seiner rund 3000 Rider an. Rivale Wolt, der seit dem Vorjahr in Österreich expandiert, hält es ähnlich.

Lieferando bietet seinen gut 1000 Beschäftigten hierzulande ausschließlich fixe Anstellungen. Jede Lohnerhöhung treffe einseitig Anbieter mit Kollektivvertragsbindung. Weitere Wettbewerbsnachteile seien programmiert, sagt Unternehmenssprecher Oliver Klug. "Wir können nur verteilen, was wir erwirtschaften." Ohne vergleichbare Arbeitsmodelle bei vergleichbaren Anbietern landeten noch mehr freie Dienstnehmer in prekären Verhältnissen, zulasten der Sozialsysteme und Steuerzahler.

Umsatzeinbruch für Wirte?

Die geforderte Erhöhung der Gehälter um 8,7 Prozent treibe die reinen Personalkosten auf stattliche 19 Euro pro Stunde, rechnet Klug vor. Kunden akzeptierten die dafür nötigen Preisaufschläge nicht. Die Konsequenz seien Umsatzeinbrüche der Gastronomie und Entlassungen bei Restaurants wie Lieferdiensten. Gruber schüttelt ob der 19 Euro den Kopf: Diese Zahl gebe Rätsel auf, denn aktuell liege der monatliche Mindestlohn bei mageren 1730 Euro brutto.

Ein Abschluss unter der Inflation bedeute, dass sich Arbeitgeber Geld ersparten, zieht Toni Pravdic Bilanz. Der Chefverhandler der Arbeitnehmer erinnert daran, dass Just Eat Takeaway, Mutterkonzern von Lieferando, die Gewinnmarge 2023 in Nordeuropa inklusive Österreich erhöht habe. Ihr operatives Ergebnis sei um 17 Prozent gestiegen. Der Gesamtverlust habe sich im Jahresvergleich um zwei Drittel reduziert. Aktienrückkaufprogramme würden fortgesetzt. Die Kosten für Kuriere hingegen seien weltweit um zwölf Prozent gesunken.

Seit Monaten ringen Essenszusteller um neue Kollektivverträge.
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Martin Gruber-Risak hält eine Erhöhung der untersten Lohngruppen in Österreich für unabdingbar. Der größte Hebel für bessere Arbeitsbedingungen sei jedoch die Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit, sagt der Experte für Arbeits- und Sozialrecht der Universität Wien im Gespräch mit dem STANDARD.

Botendienste wüssten exakt, wo ihre Rider wie lange unterwegs seien. Es gebe nur wenige Beschäftigte, die über Geotracking intensiver überwacht würden, was klar für unselbstständige Arbeitsverhältnisse spreche. Geschäftsmodelle von Plattformunternehmen wie Foodora fußten jedoch darauf, die Lohnnebenkosten gering zu halten.

Mindestlöhne nach Kollektivvertrag spielt es für freie Dienstnehmer ebenso wenig wie bezahlten Urlaub und Weihnachtsgeld. Wer unfreiwillig Stehzeiten hat, sieht finanziell durch die Finger. Krankengeld gibt es erst ab dem vierten Tag und dann nur die Hälfte der Bemessungsgrundlage. Rider, die 1430 Euro netto im Monat für 40 Stunden Arbeit auf der Straße verdienen, können sich Ausfälle ohnehin nicht leisten.

EU-Richtlinie steckt fest

Der Versuch der EU-Kommission, digitale Plattformarbeit in die Schranken zu weisen, lief bisher ins Leere. Sie schuf zwar konkrete Kriterien für die Definition von unselbstständig Beschäftigten. Ihre Vorschläge stecken jedoch im Europäischen Rat fest. Anders als Österreich stiegen Länder wie Deutschland, Frankreich und Estland hart auf die Bremse. Die Richtlinie sei eine effektive Waffe gegen Scheinselbstständigkeit, sagt Gruber-Risak. Er bezweifelt jedoch, dass sie in absehbarer Zeit Realität wird.

Kämpfen Österreichs Fahrradboten mit dem Rücken zur Wand? VP-Arbeitsminister Martin Kocher habe es in der Hand, ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern, betont Gruber-Risak. "Österreich könnte progressiver sein, will es offenbar jedoch nicht."

Der Sozialrechtsexperte führt eine Umkehr der Beweislast bei fälschlichen Einstufungen von Beschäftigten ins Treffen. Europarechtlich sei dies unproblematisch. Andere EU-Staaten lebten es längst vor, Belgien etwa in der Bau- und Reinigungsbranche.

Flexibilität als Legende

Optimistisch ist Gruber-Risak, was laufende Verfahren betrifft. Wie berichtet prüft das Arbeits- und Sozialgericht Wien, ob Foodora-Fahrer zu Recht freie Dienstnehmer sind. Die Klage von Betriebsräten gegen den Konzern ist aus seiner Sicht ein wichtiger Schritt, um gegen Scheinselbstständigkeit vorzugehen.

Aus der Luft gegriffen hält er Argumente, Anstellungen seien in einer Branche, die von Dumpingpreisen dominiert werde, nicht leistbar. "Lieferando zeigt vor, dass sich dieselbe Leistung auch mit Arbeitsverträgen erbringen lässt." Eine Legende sei auch, dass es nach der Anstellung mit der Flexibilität vorbei sei. "Es ist in fixen Arbeitsverhältnissen nicht verboten, Arbeitszeiten zu verändern."

Die hohe Flexibilität habe ihm den Job einst schmackhaft gemacht, erzählt ein junger Lieferando-Bote am Rande der Betriebsversammlung. Er sei Student, die Arbeit sei mit dem Studium gut vereinbar und habe mehr eingebracht, als im Supermarkt Regale zu schlichten. Mittlerweile aber habe er seit 2021 keine Lohnanpassungen mehr erlebt. Wer Vollzeit arbeiten müsse, komme finanziell nicht länger über die Runden.

"Ganz ehrlich, sich in Wien, wo es tausende Lokale an jeder Ecke gibt, eine Pizza bis vor die Haustür liefern zu lassen, ist Luxus", meint ein Kollege, der sich dem Protestzug anschließt. "Wer sich das leistet, sollte dafür auch entsprechend bezahlen." (Verena Kainrath, 7.3.2024)