Sturms Fankurve präsentiert ihre Schal-Kollektion.
Harter Kern, weiche Schals.
REUTERS/Leonhard Foeger

Graz – Selten wurde jemand bei einem Zahnarztbesuch so frenetisch angefeuert wie die Kicker von Sturm Graz am Donnerstagabend. Schon die ersten zehn Minuten des Conference-League-Achtelfinalhinspiels offenbarten, dass Österreichs Vizemeister gegen Lille auf verlorenem Posten war. Es galt das Prinzip, das jedermann vom alljährlichen Abstecher zum Dentisten kennt: Einfach nur hoffen, dass es nicht zu sehr wehtut.

"Wir waren nur am Nachlaufen", sagte Sturm-Trainer Christian Ilzer nach dem 0:3. Selten in der Ära des Erfolgstrainers wurden die Grazer von Beginn an so sehr zu Statisten degradiert. "Wir haben in den ersten zehn Minuten keinen Ball gesehen – und wenn wir einmal einen hatten, mussten wir ihn lang schlagen, weil wir so unter Druck waren", sagte Dimitri Lavalée. Dieses Bild änderte sich nur in kurzen Phasen nennenswert, Ilzer sprach folgerichtig von einer "auch in dieser Höhe verdienten Niederlage" und einem "Lehrspiel".

Starke Franzosen

Von Lilles Qualität war in Sturms Reihen niemand überrascht. Ilzer betonte, dass es im Europacup Teams wie Slovan Bratislava gebe, gegen die Sturm mit seiner üblichen Spielweise "absolut top funktionieren kann. Aber es gibt Teams, die drüberstehen, die absolute Ballsicherheit haben." Auch auf anderswo eher grobmotorisch veranlagten Positionen hatte Lille Edelzangler, denen die Kugel auf Zuruf zu gehorchen schien. Die Franzosen hatten Unterschiedsspieler sonder Zahl, vom stetig wirbelnden Traumtorschützen Edon Zhegrova bis zum entspannten Fädenzieher Ayyoub Bouaddi. Angesichts der Abgeklärtheit des offiziell 16-Jährigen könnte man in Versuchung kommen, die Laubsäge zu zücken und Jahresringe zu zählen.

Sturms Sportchef Andreas Schicker stand nach der Partie zu dem üblichen Zugang, der gegen die Qualität des Vierten der Ligue 1 ins Leere lief. Natürlich könne man im 4-5-1 ein 0:2 heruntermauern, doch sinnvoller sei es, mit dem bekannten System Lernmomente zu sammeln. Ilzer betonte, dass gegen einen Gegner dieser Klasse eben viel zusammenkommen müsse: "Du musst unglaublich griffig sein, um den Gegner nicht in dieses Selbstverständnis kommen zu lassen. Dann brauchst du mehr Aktionen in der gegnerischen Hälfte", erklärte Sturms Coach. "Du musst die wenigen Momente, die du hast, nutzen und so leichte Verunsicherung beim Gegner entstehen lassen, selber in einen Flow kommen und über dich hinauswachsen." Das sei seiner Elf aber "in keiner Phase der Partie gelungen".

"Ein Spiel, das aufs Selbstvertrauen geht"

Dass die erste Niederlage des Kalenderjahres derart klar ausfiel, bringt den Psychologen im Cheftrainer auf den Plan. "Das ist ein Spiel, das aufs Selbstvertrauen geht, wenn man das nicht richtig kanalisiert", sagte Ilzer auf STANDARD-Nachfrage. Er wolle einerseits Entwicklungspotenzial aufzeigen, andererseits sei es aber "unsere Aufgabe, schnell wieder ins Vertrauen zu kommen". Einfach sei die Situation nicht, sagte Außenverteidiger David Schnegg, aber: "Wir brauchen uns jetzt nicht herunterziehen lassen. Wir werden uns nicht wegen eines Spiels alles kaputtmachen."

Immerhin gab es eine Sache, die 94 lange Minuten beim ballesterischen Zahnarzt für Österreichs Vizemeister erträglicher machte: die Fans. Sturms Nordkurve präsentierte sich in bester Europacup-Form und holte den Rest des Stadions nicht nur mit der Aktion "Bringt euren Fanschal" immer wieder mit ins Boot. "Die Atmosphäre hat mich beeindruckt, weil wir nicht das Spiel dazu geliefert haben. Es ist für die Spieler phasenweise frustrierend, wenn dich ein Gegner so laufen lässt, und die Fans haben unsere Jungs noch einmal aufgerichtet", sagte Ilzer. Auch Lille-Trainer Paulo Fonseca streute der Kulisse Rosen. Ein französischer Kollege auf der Pressetribüne sah sich zwischen seinen furchterregenden Hustenanfällen gar kurzzeitig zum Mitklatschen animiert, sogar von der Kommentarspalte von "L'Équipe" gab es ein "Chapeau!" für Sturms Anhang.

Steiamoak

Es soll Stadien geben, in denen sich die Massen beim Stand von 0:3 ab der 85. Minute auf die Flucht vor Stau und Öffi-Schlangen machen. Die allermeisten der offiziell 13.825 Fans in der Merkur-Arena entschieden sich stattdessen für eine Gesangseinlage: Gert Steinbäckers "Steiermark" in Dauerschleife erleichterte den Weg zum Schlusspfiff. Das war auch für all jene, in deren Venen statt Steirerbluat Himbeersaft fließt, gewaltig. "Die letzten 15 Minuten waren Wahnsinn. So eine Unterstützung wünscht man sich", sagte David Affengruber.

Steiermark
Gert Steinbäcker - Topic

Von den lautstarken Chorsängern wird beim Rückspiel kommenden Donnerstag nur der harte Kern dabei sein, im März ist Frankreichs Norden kein klassischer Sehnsuchtsort. "Es ist nichts vorbei. Wir müssen ein anderes Gesicht zeigen", sagte Lavalée. "Wenn wir in den ersten Minuten treffen, können wir vielleicht etwas schaffen." (Martin Schauhuber, 8.3.2024)