Daniela Strigl
Daniela Strigl und ihr Buchtipp.
privat

Aus dem Leben einer Berufsleserin: Nach dem Morgenkaffee greift sie zum Buch wie der Installateur nach der Rohrzange. "Am Schreibtisch lese ich aber nicht gerne!", schränkt sie ein, und manchmal fängt sie auch erst abends zu lesen an. Da wären einerseits die Bücher, die sie von den Verlagen zugeschickt bekommt: "Selbst wenn mich die alle interessieren würden, könnte ich sie nicht alle lesen." Auch sitzt sie oft in Jurys: "Speziell Buchpreisjurys sind mehr Arbeit, als man glaubt! Da muss man sich oft einen Überblick über 100 oder mehr Bücher verschaffen." Und was Stipendienjurys angeht: "Da gibt es ausgesprochen versierte Autoren, die deutlich besser im Lukrieren von Geldquellen sind als im Schreiben von Texten." Und dann wären da noch die Bücher, die sie rezensieren müsse: "Da sammelt sich manchmal Frustration an, die sich in einem Verriss entladen kann." Was Verrisse angeht, war ihr Sigrid Löffler immer sympathischer als Reich-Ranicki: "Sie war elegant, er oft zu persönlich."

Neue Entdeckungen

Zum Glück gibt es auch für sie immer noch Entdeckungen, die eine Art kindliche Lesebegeisterung entflammen. Oder sie liest zwischendurch mal wieder einen Klassiker wie Das Gemeindekind. "Das ist ein sehr spannendes Buch über einen jungen Außenseiter, dem wegen seiner Herkunft ganz schlechte Karten zugeschrieben werden. Eine Geschichte auch über die destruktive Macht des Vorurteils. Ebner-Eschenbach zeigt darin, dass man als Individuum trotz negativer Prognosen etwas aus sich machen und als trotzig Schweigender eine Sprache finden kann. Heute würde man Selbstermächtigung dazu sagen."

Die Autorin, selbst adelige Schlossbewohnerin, hatte ein ehrliches Interesse am Leben der einfachen Leute: "Wer die soziale Frage ignoriert, soll selbst nicht ruhig leben können", sagte sie. So wurde wohl auch Victor Adler auf sie aufmerksam, der persönlich bei ihr vorstellig wurde, um das Buch als Fortsetzung in der Arbeiterzeitung zu veröffentlichen. Adler glaubte an gleiche Chancen für alle, richtig durchgesetzt hat sich seine Idee aber bis heute nicht. Und auch für das Gemeindekind gibt es kein Happy End. (Manfred Rebhandl, 9.3.2024)