Illustration
Jugend ohne Grenzen? Das Ausmaß von Jugendkriminalität ist nur schwer zu beurteilen.
der Standard/Armin Karner

Entwicklung der Zahlen – Mehr Anzeigen, aber weniger Verurteilungen

Wie schwierig die Beurteilung des Ausmaßes von Jugendkriminalität ist, offenbart sich bei genauem Blick auf die Statistiken. Schaut man etwa nur auf die Anzeigen, dann geht die Kurve eher hinauf – mit Spitzen nach oben und unten. Der Anteil der Jugendlichen an der Gesamtsumme aller Tatverdächtigen liegt seit einer Dekade bei zwischen zehn und zwölf Prozent. Davor waren es seit den 1990ern zwischen elf und 16. Bei den unter 14-Jährigen, die aufgrund ihres Alters nicht vor Gericht stehen, verläuft die Kurve ebenfalls in Wellen. Zuletzt ging sie aber steiler hinauf: 2022 machten sie 3,4 Prozent aller Tatverdächtigen aus, vor zehn Jahren waren es 2,1. Die häufigsten Delikte blieben dieselben: Diebstahl, Sachbeschädigung, Körperverletzung. Die Reihenfolge kann sich ändern. Bei Jugendlichen kommen mehr Verstöße gegen das Suchtmittelgesetz hinzu.

Die Statistiken können allerdings widersprüchlich erscheinen. So wird etwa seit 2018 ein Tatverdächtiger mehrfach gezählt, wenn ihm mehrere strafbare Handlungen zugeordnet werden. Neue Sicherheitstechnik kam hinzu, was die Kontrolle erhöht hat. Die Digitalisierung brachte einerseits neue Delikte, andererseits eine leichtere Dokumentation von Straftaten. Die Aufklärungsquote ist im Laufe der Zeit gestiegen– ebenso wie die Anzeigenbereitschaft in einer zusehends sensibilisierten Gesellschaft. Bei den Verurteilungen hingegen ist der Trend rückläufig, was eine Diskrepanz zu den Anzeigen ergibt.

Ausmaß der Gewalt – Die Frage der Qualität und der Quantität

Der Befund einer zusehends verrohten Jugend ist nicht neu. Im Jahr 2000 beispielsweise zitierte das Innenministerium in einem Bericht Vertreter der Polizei mit den Worten, Jugendliche seien "brutaler geworden". Der damalige Präsident des Jugendgerichtshofs, Udo Jesionek, hielt darin fest, Jugendliche zögen vermehrt "mit Messern durch die Gegend". Gleichzeitig relativierte er: Einzelfälle würden "die Gesellschaft erschüttern", die Anzahl der wegen schwerer Delikte inhaftierten Jugendlichen bleibe über die Zeit aber gleich. 2008 urteilte das Bundeskriminalamt: Qualitativ sei keine Zunahme der Jugendkriminalität beobachtbar, aber quantitativ. Dass die"Intensität der Gewalt" in den vergangenen Jahren zugenommen habe, hielt jüngst Polizeijurist Walter Dillinger fest.

Er ist Teil einer interdisziplinären Arbeitsgruppe in Wien, die Jugendkriminalität in der Stadt eindämmen soll. Bei der Präsentation machte Gerhard Winkler, Leiter des Ermittlungsdienstes der Wiener Polizei, eine "erhöhte Gewaltbereitschaft" bei manchen Straftaten fest. Nimmt man die wegen Delikten gegen Leib und Leben verurteilten Jugendlichen her, gab es zuletzt einen Anstieg (2022: 729). Die Zahl ist aber niedriger als 2012 (955). Sieht man sich die Verurteilungen wegen schwerer Körperverletzung in dieser Altersgruppe zwischen 2019 und 2021 an, fällt auf: Im Gegensatz zu anderen Delikten sinken sie nicht, sondern bleiben mit um die 200 Fälle etwa gleich.

Organisationsgrad – Jugendgruppen, Banden und "No-Go-Areas"

Jugendgangs im Sinne organisierter Gruppen, die sich wie etwa in Schweden mit dem Vorsatz treffen, kriminelle Handlungen zu begehen, gibt es in Österreich nicht. Die Landespolizeidirektion Wien bestätigt immer wieder, dass es zwar vorkommen könne, dass "Menschen in Gruppen auftreten und auch als solche agieren". Der Begriff "Bande" sei aber in den meisten Fällen nicht zutreffend. Fehlen die finanziellen Möglichkeiten, trifft man sich eher an öffentlichen Orten. "No-Go-Areas" aber gibt es laut Polizei nicht.

Der Soziologe Kenan Güngör spricht von "Meid-Zonen" für Teile der Bevölkerung, in denen abgehängte migrantische Jugendliche wegen fehlender Strukturen und mangelnder Perspektiven ihren Tag verbrächten – und nicht selten in den Drogenhandel abglitten. Der Migrationshintergrund wird in der Kriminalstatistik nicht erhoben, aber man weiß: Die Anzahl nichtösterreichischer Staatsbürger liegt über dem, was ihren Anteil an der Bevölkerung ausmacht. Allerdings ist das Bild verzerrt, weil viele ausländische Tatverdächtige nicht hier wohnen, sondern beispielsweise in Österreich irregulär aufhältig oder beschäftigt sind. In manchen Gruppen gibt es zudem unausgewogene Geschlechterverhältnisse, weil mehr Männer als Frauen hier leben – und insgesamt mehr Junge. Hinzu kommt: Die Anzeigebereitschaft der Opfer ist laut Studien von der ethnischen Zugehörigkeit des Täters beeinflusst. Je fremder der Täter, desto eher wird angezeigt.

Täterprofil – Soziale Probleme als gemeinsamer Hintergrund

Seit Jahrzehnten gleich geblieben ist der soziale Hintergrund der jungen Täter, das bestätigen Psychologen, Jugendrichterinnen und Sozialarbeiter gleichermaßen. Schwierige Familienverhältnisse, ein problematisches soziales Umfeld, keine verantwortungsvolle erwachsene Bezugsperson, eigene Gewalterfahrung, psychische Probleme: Das sind die Gemeinsamkeiten, die der Verein Neustart beobachtet, wie Pressesprecher Thomas Marecek ausführt. Migrationshintergrund sei ebenfalls ein Merkmal, aber nicht das einzige und außerdem "oft der falsche Fokus". Neustart arbeitet im Bereich der justiznahen Sozialarbeit, der Kriminalitätsprävention, Straffälligen- und Opferhilfe. Von den rund 12.000 Klienten, die Neustart pro Jahr in der Bewährungshilfe betreut, ist ein Drittel zwischen 14 und 21 Jahre alt.

Der Großteil der jungen Straftäter ist männlich, das ist über die Zeit hinweg konstant. Ein gewisses Maß an Ausloten von Grenzen und Grenzüberschreitungen gehörten zur Adoleszenz dazu, sagt Marecek. Ab 21, spätestens ab 25 sinke die Wahrscheinlichkeit wieder, straffällig zu werden. Einen signifikanten Anstieg der Gewalt sieht er nicht. In der öffentlichen Wahrnehmung gehe es meist um schwere Delikte, in ihrer täglichen Arbeit aber mehr um Sachbeschädigung, Diebstahl oder Drogen. Strafandrohung habe keine präventive Wirkung, sagt Marecek: "Wenn Jugendliche Straftaten begehen, passiert das oft in der Gruppe und ist selten geplant."

Ethnische Komponente – Integration, Abschottung und wachsame Eltern

Der Schweizer Gewaltforscher Dirk Baier – ein gefragter Gesprächspartner in seinem Gebiet – betont ebenfalls die Wichtigkeit, die sozialen Probleme hinter jungen Straftätern zu sehen. Sie mehr in die Gesellschaft einzubeziehen müsse der Ansatz sein. Mit Migrationshintergrund gehe oft ein schlechterer Sozialstatus einher, was das Risiko erhöhe, gewalttätig zu werden. Baier sieht teilweise auch "bestimmte kulturelle Muster, wie zum Beispiel Dominanzideologien, die hier eine Rolle spielen", wie er jüngst in einem ORF-Bericht erklärte. Er plädiert dafür, Männlichkeitsbilder, die Gewalt verherrlichen, abzubauen.

Hermann Kuschej beschäftigt sich am Institut für Höhere Studien in Wien mit Formen migrantischer Jugenddelinquenz. Er sagt, es sei zentral, ob sich Integration vollziehe oder nicht. Wer keine Anknüpfungspunkte finde, tendiere dazu, sich abzuschotten: "Selbstethnisierung", sagt Kuschej. Einen nachweislichen Unterschied mache es auch, ob jemand begleitet oder unbegleitet zugewandert sei. Wenn Tagesstrukturen und private Kontrollinstanzen fehlen, sei das Risiko für Konflikte mit Normen und Gesetzen weit größer.

Grundsätzlich sieht Kuschej die Gesetzestreue innerhalb von Migrationsgruppen stärker ausgeprägt, weil diese viel mehr im öffentlichen Fokus stehen und mehr zu verlieren haben als sogenannte Autochthone. Deshalb achteten Eltern migrantischer Jugendlicher häufig penibel auf die Einhaltung. (Anna Giulia Fink, Jan Michael Marchart, 9.3.2024)