Jürgen Vogel spielt in
Jürgen Vogel spielt in "Nachts im Paradies" von Canal+ einen halbwegs anständigen Taxifahrer in einer dunklen Welt.
Canal+

Taxler sein, das war vielleicht einmal was. Im fiebernden Getümmel von "Nachts im Paradies" von Canal+ muss man schon von einem besonderen Schlag sein, um die vorwiegend kaputten Fahrgäste von A nach B zu transportieren. So einer wie Vincent, der in der brutalen Unterwelt zunächst ein Auge verliert, dann um seine Tochter kämpft und mit Birgit Minichmayr spezielle Trips unternimmt. Die Rolle des Vincent ist Jürgen Vogel auf den Leib geschrieben – und das ist nicht so dahingesagt. Frank Schmolke hatte den auf gebrochene Figuren spezialisierten deutschen Schauspieler tatsächlich vor sich, als er die gleichnamige Graphic Novel schuf.

STANDARD: Birgit Minichmayr hat bei der Entwicklung ihrer Figur an Beatrice Dalle aus Jim Jarmuschs "Night On Earth" gedacht. Wen hatten Sie bei Vincent vor sich?

Vogel: Ich bin da ziemlich unbelastet reingegangen. Wir mussten eine neue, eigene Welt erfinden. Ich fand das total spannend, mich auf die Situation einzulassen. Ich weiß aber, bei Birgit ist das anders. Ich habe mit ihr einen Kinofilm gemacht, für den hat sie in fünf Monaten Norwegisch gelernt. Ich dachte, sie will mich verarschen, als wir im Bus vom Flughafen zum Hotel gefahren sind und sie anfängt, mit dem Busfahrer Norwegisch zu reden. Von da an habe ich sie immer Streberin genannt. (lacht)

STANDARD: Der Taxler ist eine legendäre Filmfigur, es gibt Travis Bickle in "Taxi Driver" oder – wieder bei Jarmusch – Helmut Grokenberg, gespielt von Armin Müller Stahl.

Vogel: Ich mochte einfach, dass Vincent ein Loser ist und trotzdem hilfsbereit. Vincent ist vielleicht abgestumpft, aber noch immer verletzlich. Ich mochte, dass es in ihm brodelt, und seine Härte, die in ihm schlummert. Ich mag die Geschichte, in der es um alles geht, um Liebe, um Verlust und wie sich das Stück für Stück entwickelt. Es geht um Menschen auf der Suche nach Erlösung, nach Wärme und Geborgenheit. Und die Serie hat einen unglaublich tollen Look.

STANDARD: Wo ist denn eigentlich das Paradies in "Nachts im Paradies"?

Vogel: Ja, das ist die Frage. Die Frage ist, ob das Paradies immer so aussehen muss, wie wir uns das so klassisch christlich vorstellen. Wenn ich jetzt entscheiden müsste, ob ich oben bei den Engelchen sein will, wo alles so schön und nett ist, oder unten in der Hölle, und da ist so eine richtig heiße Party, dann weiß ich, dass ich lieber da unten wäre.

STANDARD: Wie schafft es dann Vincent, halbwegs anständig zu bleiben?

Vogel: Das ist die große Frage, ob er es wirklich bleibt. Ich finde, er macht seine Sache gut. Aber wie das so ist mit Hoffnungsträgern, die gehen immer verschiedene Wege.

STANDARD: Vincent trägt nach einem Zwischenfall eine Augenklappe. Ist er der Einäugige unter den Blinden?

Vogel: Das könnte man jetzt philosophisch so sagen.

"Für die Stunts haben sie mir in die Klappe ein Loch reingemacht mit einem schwarzen Netz darüber, sodass ich zumindest die räumlichen Dimensionen erkennen konnte."

STANDARD: Wie war die Klappe beim Drehen? Man stellt es sich schwierig vor.

Vogel: Ich fand es richtig schwierig, zumindest die erste Zeit. Denn Vincent muss Motorrad fahren, er hat Schlägereien, und das mit nur einem Auge. Daran musste ich mich wirklich erst gewöhnen. Das Auge fing durch das Silikon auch immer an zu jucken, klar, wenn du zehn Stunden drehst. Für die Stunts haben sie mir in die Klappe ein Loch reingemacht mit einem schwarzen Netz darüber, sodass ich zumindest die räumlichen Dimensionen erkennen konnte.

STANDARD: Aber ist Vincent der Einäugige unter den Blinden?

Vogel: Ich glaube schon, aber dazu müsste man Frank Schmolke, den Autor der Graphic Novel, befragen. Ich glaube, es zeigt, wie brutal Vincent die Welt von außen mitspielt und was das mit einem verletzlichen Menschen macht.

STANDARD: Es gibt einige Härten in der Serie. Warum musste es so brutal sein?

Vogel: An die Grenzen zu gehen finde ich immer spannend. Ich erinnere mich an den Film "Henry – Portrait of a Serial Killer", ein Low-Budget-Thriller des US-amerikanischen Regisseurs John McNaughton aus dem Jahr 1986. Darin geht es um die wahre Geschichte eines Massenmörders in den USA. Dieser Film ist so krass gedreht und hat mich Jahre beschäftigt. Ganz einfach, weil er so unschön erzählt ist und eben nicht voyeuristisch ist. Ganz anders als der Film "Irréversible", in dem eine Frau, gespielt von Monica Bellucci, vergewaltigt wird. Diesen Film finde ich nicht gut, weil mich die Ästhetik und Schönheit der Gewalt abgeschreckt hat. "Henry" versucht zu verstehen, warum der Killer mordet. Es ist die viel radikalere Form eines Psychogramms eines Massenmörders. Der Film wird der Gewalt gerecht, er versucht nichts schönzureden, und ich finde es eigentlich ganz gut, wenn Sachen mal richtig klar und brutal sind.

STANDARD: Drehen Sie gern Schlägereien?

Vogel: Schlägereien bzw. den Stunt im Film mache ich ganz gerne selbst. Kampfsport interessiert mich, und ich habe einen tollen Stunt-Koordinator, mit dem ich seit Jahrzehnten zusammenarbeite. Die Art der körperlichen Auseinandersetzung hat etwas mit der Figur zu tun. Auch die Gewalt ist Ausdruck einer Persönlichkeit, und jede Persönlichkeit funktioniert da anders. Deswegen finde ich auch Choreografien so spannend, weil die Form der Schlägerei zum Charakter passen muss. Was passiert außerhalb der Gewalt? Schlägerei ist nicht gleich Schlägerei, sondern hat immer mit der Haltung der Figur zu tun. Deswegen bin ich froh, wenn ich das selbst machen kann, weil sich eine solche Szene wie beim Tanz aus der Figur heraus mitentwickeln darf. Und das ist natürlich schön.

Nachts im Paradies | Deutscher Trailer lang | CANAL+
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STANDARD: Wobei Fehltritte womöglich ungleich schmerzhafter sind als beim Tanz.

Vogel: In der Welt des Films, insbesondere in Szenen mit intensiven Kampfhandlungen, bleibt es selbst nach sorgfältiger Probenarbeit nicht aus, ab und an einen Treffer einzustecken. Mir persönlich ist es sogar schon passiert, dass ich kurzzeitig Sterne gesehen habe. (lacht)

STANDARD: Es gibt auch eine Nacktszene – kein Problem für Sie?

Vogel: Birgit und ich hatten ja schon bei "Gnade" eine ganz schöne Liebesszene. Das heißt, wir hatten da schon so eine Historie, und ich glaube, wir haben uns damals beide wohlgefühlt. Deswegen konnten wir es jetzt auch mal ein bisschen anders machen. Matthias Glasner (Regie, Anm.) wollte mich für die Szene wirklich nackt, also auch ohne Tätowierungen. Es dauerte vier Stunden, alles abzuschminken. Diese Art der Nacktheit ist für mich das geringste Problem, der Seelenzustand einer Figur ist ja viel komplizierter. Das kann man sich vielleicht nicht vorstellen, aber du lässt da auf ganz andere Weise die Hosen runter. Viele, viele Dinge, die du da machst, sind letztlich viel intimer und viel privater, als die Zuschauer das vielleicht wissen. Äußerliche Nacktheit war mir immer egal, und ich finde es gut, wenn Männer auch nackt sind. Die Frau muss sich immer ausziehen, während der Mann die Hose anbehält. Ich finde das ätzend. Das war bei diesem Film überhaupt kein Thema, aber ganz oft ist es so, und ich meine, wenn schon, dann beide. Sonst macht es doch gar keinen Sinn.

STANDARD: Gab es einen Intimitätscoach?

Vogel: Hatten wir, und ich finde das auch gut, weil man darf das nicht unterschätzen. Es ist gut, dass jemand da ist, der vorher mit allen alles bespricht, damit klar ist, was sie wollen und was sie nicht wollen. Wo ist die Grenze? Das ist superwichtig. Eine junge Schauspielerin ist vielleicht für eine Szene vorgesehen, bei der sie sich vielleicht nicht traut, Nein zu sagen. Mit koordinierten Gesprächen kann man das ausschließen.

STANDARD: Sind Ihnen solche Szenen bekannt?

Vogel: Ich habe miterlebt, dass Frauen sagen: "Da hab ich keinen Bock drauf. Mache ich nicht." Wobei, man muss schon vorher genau lesen und sich darüber Gedanken machen. Wenn ich in einem Film wie "Nackt" von Doris Dörrie mitspiele, sollte ich keine Probleme mit Nacktszenen haben, weil zu erwarten ist, was kommt. Und trotzdem ist es super, wenn ein Intimitätscoach dabei ist, der die Arbeit begleitet.

STANDARD: In der Serie "Keine besonderen Vorkommnisse" drehten Sie mit Kida Khodr Ramadan. Er war zuletzt im Gespräch wegen schlechten Benehmens bei diversen Drehs. Wie waren Ihre Erfahrungen?

Vogel: Wir hatten drei Drehtage, und da war natürlich nix. Ich mache den Job seit 40 Jahren, die Leute haben Respekt vor mir. Ich glaube, jeder weiß auch, dass ich am Set freundlich bin und nicht möchte, dass jemand schlecht behandelt wird. Wenn ich dabei bin, wird keiner angeschrien oder mit Schimpfworten beworfen. Das ist absolutes Tabu. (Doris Priesching, 12.3.2024)

Jürgen Vogel (55) gehört zu den gefragtesten Schauspielern Deutschlands. Der Quereinsteiger ist preisgekrönt mit Filmen wie "Der freie Wille" und "Die Welle".

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