Auf Social Media analysiert Hartmann das Leben. Das setzte sie auch in ihrem Debütroman
Auf Social Media analysiert Hartmann das Leben. Das setzte sie auch in ihrem Debütroman "Land in Sicht" sowie in "Klarkommen" fort.
Lenny Rothenberg

Eine 40-minütige Zugfahrt von zu Hause entfernt wartet alles, was das Leben lebenswert macht: Partys, Clubbesuche, Konzerte. Dinge, die in der Kleinstadt nicht möglich sind. Dort lebt die Ich-Erzählerin aus Ilona Hartmanns Roman Klarkommen mit Eltern und Bruder. Umringt von hübschen Fachwerkhäusern und einem Friseur pro Haushalt, aber auch einer begrenzten Anzahl an Supermärkten und kaum Möglichkeiten, um aufregende Dinge zu erleben.

Dennoch lässt sie die planungsintensive Fahrt in die nächstgelegende größere Stadt oft genug sausen, um sich anschließend über die versäumten Erlebnisse zu ärgern. Die Erlösung wartet nach dem Abitur: Zusammen mit ihrer Freundin Mounia und dem heimlichen Schwarm Leon zieht die Protagonistin zum Studieren in eine Metropole, betritt damit als Erste der Familie eine akademische Laufbahn. All die Verheißungen der Großstadt liegen nun direkt vor der Haustür, das Verpasste kann nachgeholt, die elterliche Abwesenheit ausgeschöpft werden. Da werden endlich die Wände mit Nägeln durchlöchert, mehrere Brotaufstriche auf einmal geöffnet und die Nächte zu gewöhnungsbedürftiger Musik durchgetanzt.

Nicht verschwenderisch genug

Doch das gewünschte Abenteuer will nicht so richtig kommen. Stattdessen sind da verschimmelte Lebensmittel zu entsorgen, Abwasch zu erledigen und Rechnungen zu bezahlen. Dazu machen sich noch Angst- und Schuldgefühle breit, etwas zu verpassen und die Stadt nicht genug zu benutzen: "Uns war zu jedem Zeitpunkt schmerzlich klar, dass wir nicht wild genug, nicht jung genug, nicht wütend genug, nicht intensiv genug, nicht verschwenderisch genug unsere Zeit verschwendeten."

In ihrem zweiten Roman schildert die deutsche Autorin fragmentarische Eindrücke des Erwachsenwerdens und macht dabei das Gleiche, was sie für 75.000 Follower auf Instagram macht: Sie beschreibt Alltägliches so nachvollziehbar, dass man nicht weiß, ob es ein fremdes oder das eigene Leben ist, das da auf dem Präsentierteller liegt.

Anders als in den Hochglanz-Teenie-Filmen beschönigt sie nichts und lässt selbst langweilige Aspekte nicht aus, wie etwa unbefriedigende Liebschaften und nagende Vergleiche mit all jenen, die scheinbar mühelos ihren Weg finden und dabei cool aussehen.

Erbe als Ballast

Gleichzeitig verpackt sie ehrliche und verständnisvolle Kritik zwischen den Zeilen – gegenüber sich selbst und dem Kleinstadtleben mit seiner schlechten "Verkehrs- und Gegenwartsanbindung". In diesem Provinzelend sind die mittlerweile geschiedenen Eltern der Protagonistin gefangen. Lange Zeit haben sie sich der Kinder zuliebe zusammengerissen und ihre aufgestaute Wut füreinander lieber am Auto oder dem Geschirr ausgelassen, anstatt offen über Probleme zu sprechen. "Es war ein seit Jahrhunderten weitervererbtes Konstrukt, eine Technik genauso wie eine Haltung, längst entkoppelt von ihrem Ursprung und ihrer Notwendigkeit. (…) Bevor ich überhaupt verstehen konnte, was das bedeutete, mich zusammenzureißen, beherrschte ich es schon."

Klarkommen ist kein Roman für Menschen, die sich ein aufschlussreiches Fazit und gelöste Konflikte erhoffen. Es ist kein Buch für Personen, die eine ungewöhnliche Geschichte lesen wollen, denn Hartmann beschreibt etwas Gewöhnliches. Das aber dafür außergewöhnlich gut.

Anschaulich und unaufgeregt artikuliert sie die Zerrissenheit, Verwirrung und Orientierungslosigkeit, die beim Aufwachsen unvermeidlich sind. Oder, wie es die Autorin selbstironisch auf Social Media formuliert: "Klarkommen erzählt die bewegende Geschichte von drei jungen Menschen, denen man permanent eine reinhauen will." Leidensgenossen, die sich mit ähnlichen Gefühlen konfrontiert sehen, werden in diesem Roman eine tröstende und wärmende Umarmung finden. (Patricia Kornfeld, 11.3.2024)