118 Tage standen die Fließbänder in der Traumfabrik völlig still.
Chris Pizzello/Invision/AP

Die Veränderungen, die künstliche Intelligenz (KI) in unser Leben gebracht hat, scheinen unausweichlich. Die Sprünge, die verschiedenste KI-Tools auf einer monatlichen Basis machen, stellt die bisherigen Leistungen weit in den Schatten. Diese Benchmarks gehen natürlich auch nicht an den Entscheidungsträgern in den Meetingräumen verschiedenster Film-, Videospiel- und Musikunternehmen vorüber.

Obwohl Hollywood vor kurzem fast ein halbes Jahr wegen der Streiks der Schauspieler- und Drehbuchautorengewerkschaften still gestanden ist, werden in immer mehr Medien kreative oder performative Tätigkeiten von künstlicher Intelligenz übernommen. In den morbidesten Fällen werden sogar Tote wieder zum Leben erweckt, um ein weiteres Mal für die Konglomerate zu dienen.

Edith Piafs Stimme

60 Jahre nachdem Edith Piaf, die selbst nur 47 Jahre alt wurde, am 10. Oktober in Plascassier starb, wird ein Teil von ihr wieder zum Leben erweckt. Die Erben Piafs gaben ihre Stimme frei, um von der Warner Music Group und einem französischen Animationsstudio in einem Film als Erzählstimme zu fungieren. Hunderte Stunden an Aufnahmen wurden herbeigezogen, um einen Deepfake ihrer Stimme zu trainieren. Laut Warner Music soll die Technologie ihre "unverwechselbare Stimme und ihr Bild wiederbeleben, um die Authentizität und emotionale Wirkung ihrer Geschichte weiter zu verstärken". Die Hinterbliebenen Piafs äußerten sich wie folgt über die Wiedererweckung ihrer Verwandten in einer Presseaussendung: "Es war eine besondere und berührende Erfahrung, Edith Piafs Stimme wieder hören zu können. Die Technologie hat es geschafft, dass es sich anfühlte, als wären wir wieder mit ihr in einem Raum."

Ob Piaf selbst dieses kreative Unterfangen gutheißt, kann unter uns Lebendigen keiner sagen, aber es erstellt einen unangenehmen Präzedenzfall. Zu oft werden Biopics veröffentlicht, die die Rolle der porträtierten Person so missversteht, dass die Hinterbliebenen und Fangemeinde sich dem Projekt nach Veröffentlichung entsagen. Zu oft sind die Erben von Weltstars zerstritten, wie die Erinnerung an die Persönlichkeiten am Leben erhalten werden soll. Der Gedanke, dass ein perfektes Faksimile der Stimme eines Verstorbenen Aussagen tätigt, die die Person nie tätigen würde, löst Unbehagen aus. Es ist bei weitem nicht der einzige Fall, in dem KI für eine bisher menschliche Performance verwendet wird.

Zumindest die Originalaufnahmen der Chansons der Sängerin, die hier 1946 in ihrer New Yorker Wohnung zu sehen ist, werden im Film benutzt.
AFP/ERIC SCHWAB

"The Finals": Hölzerne Gags und künstliche Aussprache

Vor wenigen Monaten schaffte es ein Shooter-Neuling von ehemaligen DICE-Entwicklern, die unter anderem für die "Battlefield"-Reihe bekannt sind, in die Schlagzeilen. Nicht die angepriesene "Levelution", bei der jede Explosion die Karte bleibend verändert, und auch nicht die anderen Spielmechaniken waren der Grund dafür. Die Entwickler haben auf die Anstellung von klassischen Synchronsprechern verzichtet und ließen die Ansagen von den beiden Stadionsprechern per Text-to-Speech-KI einsprechen. Die Roboterstimmen reagieren dabei auf die zufällig am Rundenstart vergebenen Teamnamen und beziehen die derzeitigen Ereignisse in ihr humorvolles Gerede ein. Das klingt auf den ersten Blick nach einer wunderbaren Idee neueste Technologie in einer Art zu verwenden, die so mit normalen Performern nicht durchführbar wäre.

AI-voiced Commentators from THE FINALS
Originally published by Gianni Matragrano (@GetGianni) on X (former Twitter): https://twitter.com/GetGianni/status/1718213579382407449
EvonRude

Spielt man das Spiel aber, wird einem schnell klar, dass die angepriesenen Neuerungen auch mit menschlichen Synchronsprecher Talent möglich gewesen wären. Ein kleiner Pool an Phrasen wiederholt sich immer wieder. Pointen werden beim 20. Mal bekanntlich nicht lustiger, und wenn sie immer mit der gleichen etwas gekünstelten Aussprache rübergebracht werden, stellt sich dieser Ermüdungseffekt noch schneller ein. Das sind alles Probleme, die mit einer menschlichen Performance hätten gelöst werden können. Variable Takes und eine nicht immer genau gleich gut gelaunte Stimme ermöglichen weit tieferes Storytelling, als mit dem künstlichen Paar aus Stadionsprechern bei "The Finals" möglich ist.

Dramatische Ironie bei Marvels "Secret Invasion"

In Marvels TV-Fortsetzung ihres Cinematic Universe mit dem Titel "Secret Invasion" geht es darum, dass die Alienspezies der Skrulls mit ihren Formwandler-Fähigkeiten auf der Erde nach und nach Menschen austauscht. Nicht nur das Aussehen, auch die Mimik und allgemeinere Eigenschaften der betroffenen Personen werden dabei vom Skrull simuliert. Dieser schreckliche Prozess spiegelt sehr gut wider, was den Menschen hinter den Kulissen dieser Serie passiert ist.

Anstatt den Vorspann von den Designern und Konzeptkünstlern des Projekts erstellen zu lassen, hat sich der Regisseur Ali Selim für die Verwendung von künstlicher Intelligenz entschieden. Jeff Simpsons, einer dieser Konzeptkünstler, äußerte sich auf X wie folgt: "Das Intro von 'Secret Invasion' wurde mit KI generiert. Ich bin am Boden zerstört, weil ich KI für unethisch, gefährlich und einzig darauf ausgelegt halte, die Karrieren von Künstlern zu vernichten. Ich habe fast ein halbes Jahr an dieser Serie gearbeitet und hatte eine fantastische Zeit mit den tollsten Menschen, die ich je getroffen habe."

Secret Invasion Opening AI Generated
Secret Invasion Opening AI. This is Secret Invasion Opening Credits - (5.1 Sound). Secret Invasion | Opening Credits | (5.1 Sound) in 4K UHD (ULTRA HD) and remastered in 60FPS - as opposed to the regular Opening Credits which are in 24FPS (frames per second)
Komix Bro

Ein Zitat wie dieses legt offen dar, welchen katastrophalen Effekt KI auf die Leben und Karrieren von Künstlern haben kann. Noch immer gibt es keine rechtlichen Grundlagen für das Training generativer KIs mit kopiergeschützten Material, und das in einer Zeit in der zum Beispiel ganze journalistische Texte der "New York Times" von ChatGPT einverleibt wurden. Man kann sich kaum vorstellen, wie es sich für Jeff Simpson anfühlen muss, die eigene Arbeit von einer KI transformiert zu sehen, ohne dass man dafür bezahlt wird.

"Justice Online": Dialoge per Deep Learning

Die Welt des Internets und der Videospiele ist in China bekanntlich eine andere als im Rest der Welt. NetEase Games, ein milliardenschwerer Videospielentwickler, von dem in der westlichen Sphäre noch kaum ein Mensch gehört hat, implementierte ein Feature in ihrem Online-Rollenspiel "Justice Online", von dem westliche Videospielentwickler gerade nur träumen können. Die computergesteuerten Figuren (NPCs) sollen mit künstlicher Intelligenz ihre Antworten selbst "schreiben". Die Figur erinnert sich dabei an das vom Spieler Gesagte und reagiert passend auf die vom Spieler erstellten Dialogoptionen. Laut den Entwicklern haben die Gespräche die Fähigkeit, die Spielwelt und das private Leben der NPCs nachhaltig zu beeinflussen. So kann man etwa die Liebesbeziehung zweier NPCs mit gezielten Worten stören oder einen feindlich gesinnten Charakter mit richtiger Wortwahl vom Kampf abhalten, erläutert ein chinesisches Videospielmagazin.

Justice Online Healer Combat & Party Gameplay
Targeting styles available, isometric, action mode, classic, or hybrid. Not really sure how I feel, the game plays a bit like Moonlight Blade. http://n.163.com/ - PC - Wuxia MMORPG - CN - Open Beta - Semi F2P Please LIKE the video and SUBSCRIBE! Cheers! http:
Steparu

Die Integrierung dieser Mechaniken scheint revolutionär und ist scheinbar auch von der chinesischen Spielerschaft mehr als gut angenommen worden, dennoch bleiben offene Fragen über die Langlebigkeit solcher Features. Wenn jeder Spieler mit genug Tatendrang die Fähigkeit hat, die Spielwelt in ihren Grundfesten zu verändern, wie lange kann dann ein ausgeglichenes und unterhaltendes Spielerlebnis vom Entwickler bereitgestellt werden? Was passiert, wenn ein Charakter eine Antwort halluziniert, die im besten Fall die Immersion bricht und im schlimmsten Fall dem Entwicklerstudio rechtliche Probleme bereitet?

"Star Wars": Die Auferstehung Fishers

Dass es trotz der grundsätzlichen Probleme dieser Vielfalt an KI-Tools eine moralische vertretbare Art gibt diese Werkzeuge zu verwenden, zeigt J. J. Abrahams mit dem neunten Teil der "Star Wars"-Reihe. Von der allgemeinen Qualität des Films abgesehen, ist die Entscheidung, die Geschichte von Carrie Fishers Charakter Prinzessin Leia nach ihrem Tod zu Ende zu erzählen, wohl die richtige. Mit einer Kombination aus nicht benutzten Filmtakes und einer durch Fishers Tochter Billie Lourd neu verfilmte Flashback-Sequenz konnte so drei Jahre nach dem Ableben der Schauspielerin der Film fertiggestellt werden. Das Gesicht der Tochter wurde dabei mit den jungen Zügen Fishers aus dem siebenten Teil der "Star Wars"-Filme ausgetauscht. Auch die gealterte Prinzessin wurde mit nicht benutzten Takes und digital erstellten Kostümen und Haaren dargestellt.

Am 4. Mai 2023 wurde Carrie Fisher posthum in der Anwesenheit ihrer Tochter und Mark Hamills mit einem Walk-of-Fame-Stern geehrt.
APA/Getty Images via AFP/GETTY I

Ausblick

Es bleibt schwierig, die Verwendung von dem Bildnis einer Verstorbenen moralisch zu vertreten. Nicht immer stehen die Hinterbliebenen hinter den Projekten, und nicht immer ist so klar wie im Falle von Carrie Fisher, dass die verstorbene Person geplant hatte in den Medien genau in dieser Rolle vorzukommen. Besonders in Situationen wie etwa beim Edith-Piaf-Biopic, in denen die betroffene Person schon vor mehreren Jahrzehnten verstorben ist, stellt sich die Frage, ob nicht reine Profitgier im Vordergrund steht.

Sind sämtliche KI-Tools also böse oder höchstens nur mit Vorsicht zu genießen? Die Antwort liegt wie so oft in der Mitte. Ähnlich der amerikanischen Debatte über das Recht, Schusswaffen zu besitzen, ist es eine Frage der gesetzlichen Rahmenbedingungen. Es ist nicht der Gegenstand selbst, sondern das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage für die Benutzung dieser Tötungswerkzeuge, dass in den Vereinigten Staaten zu einer historischen Häufung von Schusswaffentoten führt. Genauso ist es bei den Werkzeugen künstlicher Intelligenzen.

Die Mechanismen der Politik arbeiten zu langsam, um die neuen Fähigkeiten dieser Tools zu regulieren, und das liefert opportunistischen Akteuren mehr als genug Zeit, um mit Unmoralischem Geld zu verdienen. Man denke zum Beispiel an die unaufhaltbare Häufung von Deepfake-Pornografie, bei der schon jetzt eine unzählbare Anzahl von Frauen unfreiwillig ihre Gesichtszüge hat wiedererkennen müssen, wie DER STANDARD berichtete. Auch hier ist klar sichtbar, wie dringend es einer Regulierung bedarf. Es dürfen nicht die gleichen Fehler wie zuletzt bei den sozialen Netzwerken gemacht werden. (Georg Laurenz Dittlbacher, 18.3.2024)