Ist unser Wohlstand bedroht, weil immer mehr Unternehmen dem Land den Rücken kehren? Über diese Frage wird in Österreich seit gut zwei Jahren, also seit dem rapiden Anstieg der Energiepreise und der folgenden Inflationskrise, diskutiert. Die Debatte dreht sich dabei vor allem um die Zukunft jener Wirtschaftssektoren, die im internationalen Wettbewerb stehen und daher abwandern können. Es geht also nicht um den Friseur und den Bäcker von nebenan, sondern um die heimische Industrie.

Dabei haben sich zwei Lager gebildet. Einerseits sind da die Expertinnen und Experten, die angesichts hoher Anstiege bei den Kosten für Löhne und Energie zwar von einer herausfordernden Zeit sprechen, aber der Ansicht sind, Untergangsszenarien seien aufgebauscht. Auf der anderen Seite sind Kritikerinnen und Kritiker, die ein härteres politisches Gegensteuern verlangen, weil Österreich sonst die Deindustrialisierung drohe. Wirtschaftskammer-Chef Harald Mahrer gehört zweifellos zur letzten Gruppe.

Seit Herbst warnt er bereits davor, dass Betriebe bei Neuinvestitionen zusehends lieber ins Aus- als ins Inland blicken. Wer ihn bisher nach Zahlen und Belegen gefragt hatte, wurde enttäuscht. Mahrer verwies nur auf Debatten mit Industriekapitänen. Das ist seit Dienstag anders: Die Wirtschaftskammer hat beim Beratungsunternehmen Deloitte eine Befragung dazu in Auftrag gegeben, wie die heimische Industrie ihre eigenen Zukunft sieht. Befragt wurden etwas mehr als 500 Unternehmen zwischen Mitte und Ende Jänner 2024. Geht es nach diesen Ergebnissen, sollten tatsächlich die Alarmglocken läuten.

Teure Energie und hohe Arbeitskosten belasten die heimische Industrie, sagen Unternehmen.
EPA/ANNA SZILAGYI

90 Prozent der befragten Unternehmer sagen, dass die Attraktivität des heimischen Standorts sinke – immerhin 52 Prozent von ihnen sagen, dieser Rückgang sei deutlich, die übrigen sagen, sie "sinkt etwas". Eine weitere Frage lautete: In welchem Ausmaß habe Sie bereits Teile der Wertschöpfungskette in den letzten drei Jahren verlagert? 41 Prozent der Betriebe geben an, Teile ihre Wertschöpfungskette schon verlagert zu haben. "Produktionsverlagerung ist schon gelebte Realität", sagte Mahrer dazu. Und passend dazu: Fast 75 Prozent der Unternehmer geben an, dass eine reale Gefahr bestehe, dass sich Österreich deindustrialisiere.

Befragt wurden Groß- und Kleinbetriebe aus ganz unterschiedlichen Sektoren, etwa der Metalltechnischen Indsutrie, der Elektro und Elektronikindustrie, aber auch der Fahrzeug- und Papierindustrie. Die Systematik der Befragung kommt aus Deutschland, wo Deloitte schon Ende 2023 eine ähnliche Umfrage durchgeführt hat, wobei dort die Ergebnisse noch eine Spur negativer für die Zukunft des Standorts ausgefallen sind.

Mahrer nutzte die Präsentation der Zahlen, um eindrücklich zu warnen: Wenn der Standort in Gefahr sei, gefährde das auch den Wohlstand und den Sozialstaat, "denn verteilt werden kann nur, was zuvor erwirtschaftet wurde". Dabei präzisierte Mahrer, dass es aktuell weniger darum gehe, ganze Werke in Österreich zu schließen und ins Ausland zu verlagern. Angedacht sei, bei Neuinvestitionen aufs Ausland zu setzen. Hier allerdings seien wichtige Bereiche der Wertschöpfung in der Produktion gefährdet.

Dabei zeigt sich, dass ein Wandel stattfindet: Haben die Unternehmen in den vergangenen Jahren vor allem auf Verlagerungen in andere EU-Staaten gesetzte, werden die USA zunehmend interessanter. 27 Prozent der befragten Betriebe geben an, in den kommenden zwei bis drei Jahren Produktion in die USA zu verlagern. Getan haben das laut eigenen Angaben in den vergangenen drei Jahren nur neun Prozent der Unternehmen.

Mahrer präsentierte altbekannte Forderungen des Unternehmensverbands – nun mit Zahlen unterlegt. So geben fast 80 Prozent der Unternehmen an, dass die heimischen Personalkosten der Grund dafür sind, dass man Investitionen eher im Ausland erwäge. Mahrers Schlussfolgerung: Lohnnebenkosten müssen runter, sowohl Unternehmen als auch Beschäftigte müssen entlastet werden. 77 Prozent sagen, die Energiekosten seien zu hoch. Hier nannte Mahrer keine konkreten Forderungen, warnte aber vor übereilten Schritten, die Energie weiter verteuern würden. Und natürlich ganz oben auf seiner Liste: Bürokratieabbau.

Sozial erwünschte Antworten? "Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nein"

Wie gegen jede Studie lassen sich natürlich auch gegen diese Einwände finden. Einer davon lautet: Da die Unternehmer aufgrund der Fragen erahnen können, worauf die Umfrage abzielt, kann es sein, dass sie jene Antworten liefern, die erwünscht sind. Zumal es erwartbar ist, dass auf Basis der Antworten dann politische Forderungen entwickelt werden. Mahrer dazu: Mit "an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" seien keine sozial erwünschten Antworten gegeben worden, zumal die Betriebe sehr differenzierte Ansichten hätten. Manche beklagten hohen Lohnkosten, hätten aber kein Problem mit Energiepreisen. Eine spannende Frage bleibt, auf welche Kriterien in den kommenden Jahren geachtet werden soll, um zu überprüfen, ob Betriebe abwandern.

Industrieproduktion in Euroraum und EU gesunken

Mahrers Antwort dazu: auf alle volkswirtschaftlichen Kriterien. Aber ist das nicht schwierig – wenn in der Industrie die Beschäftigung sinkt, aber andere Sektoren händeringend Leute suchen, dann merkt man die Probleme in den Arbeitslosenzahlen genau nicht. Mahrers Antwort dazu: Eine wichtige Zahl werde sein, wie sich die Investitionen der heimischen Firmen im Ausland in Relation zu inländischen Investitionen entwickeln. Auch ob Unternehmen vom Markt verschwinden, sei eine wichtige Kenngröße.

Aktuell bildet sich die Stimmungslage in harten Kennzahlen nicht wirklich ab. Eine Gruppe Ökonomen hat in einer vor kurzem publizierten Analyse gezeigt, dass die heimischen Exporteure 2023 überraschend Marktanteile im Ausland dazugewinnen konnten. Die Lohn- und Preissteigerungen haben sich also bisher nicht wirklich bemerkbar gemacht. Die Industrieproduktion ist im vergangenen Jahr eingebrochen, was aber vor allem mit der schwachen Konjunktur zu tun hatte. Die Industrie produziert heute um ein Fünftel mehr als noch 2015. Und: Österreich ist eines der Länder, in denen der Anteil der Industrie an der gesamten Wirtschaftsleistung relativ stabil geblieben ist über die vergangenen Jahrzehnte (siehe Grafik). Wie in allen reichen Dienstleistungsgesellschaften ist der Anteil der Produktion an der gesamten Wertschöpfung zwar etwas gesunken, aber im Gegensatz zu Ländern wie Deutschland nur leicht. Der Anteil der Industrie an der Wertschöpfung sei auch der richtige Indikator, um später einmal überprüfen zu können, ob Unternehmen tatsächlich abgewandert sind, sagt die Ökonomin Agnes Kügler vom Forschungsinstitut Wifo.

Selbst wenn es eine Abwanderungstendenz gibt, dürfte es jedenfalls dauern, bis sich diese manifestiert. Bis Unternehmen einen Wettbewerbsnachteil spüren, kann es ja dauern. Im vergangenen Jahr sind die Lohnstückkosten in der österreichischen Industrie um 10,9 Prozent gestiegen, für heuer werden nochmals 8,6 Prozent Plus erwartet. Österreich dürfte damit bei der preislichen Wettbewerbsfähigkeit im Verhältnis zu seinen wichtigsten Handelspartnern verlieren, sagt der Ökonom Benjamin Bittschi vom Wifo-Institut. (András Szigetvari, 12.3.2024)