Vier Jugendliche, drei Jungen und ein Mädchen in erkennbar jüdischer Bekleidung sind auf dem Heimweg, als plötzlich ein Auto neben ihnen auf der Straße hält. Aus dem Wagen wird ihnen "Free Palestine!" entgegengebrüllt. Sie gehen weiter. Wenig später hält das Auto neben ihnen, ein zweites Auto ist dabei, zehn bis zwölf Personen springen heraus, beschimpfen die Jugendlichen, umzingeln sie, sagen ihnen, sie sollen verschwinden, beschimpfen sie homophob und als "Drecksjuden", schlagen den Jugendlichen ins Gesicht. Ein Anrainer beendet den Vorfall: Er ruft aus dem Fenster, dass er die Polizei holen werde. Das ist nur einer von vielen Fällen aus dem am Mittwoch präsentierten Bericht der Antisemitismus Meldestelle der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) für das Jahr 2023.

Hakenkreuz an der Außenmauer vor der jüdischen Zeremonienhalle am Zentralfriedhof.
Hakenkreuz an der Außenmauer vor der jüdischen Zeremonienhalle auf dem Zentralfriedhof.
APA/GEORG HOCHMUTH

Von einer "noch nie dagewesenen Explosion" antisemitischer Vorfälle seit Beginn der Erfassung sprach IKG-Präsident Oskar Deutsch bei der Präsentation des Berichts, es sei ein "katastrophales Ergebnis". Der letzte vorläufige traurige Rekord war zuvor das Jahr 2021 mit 965 Vorfällen gewesen, wo vor allem Corona-Demos etwa für einen Anstieg von Holocaust-Verharmlosungen und antijüdischen Verschwörungsmythen sorgten.

Danach sanken die Vorfälle im Jahr 2022 – zwar noch nicht wieder auf das Niveau von vor der Pandemie, aber doch – auf 719. Dieser Trend des Rückgangs, so erzählt Deutsch, hielt eigentlich auch 2023 an. Im September hatte man sogar einen "Tiefstand" von 24 Vorfällen in diesem Monat erreicht gehabt.

Video: Gemeldete Antisemitismus-Fälle seit 7. Oktober verfünffacht.
APA

Der Tag, der alles änderte

Jedoch änderte der 7. Oktober alles. Der Tag, an dem in Israel das größte Massaker an Jüdinnen und Juden seit der NS-Zeit verübt wurde, war ein Einschnitt im Leben der jüdischen Communitys weltweit. Die Zahl von Vorfällen in Österreich schnellte von 24 (September) auf 200 (Oktober) hinauf, im November und Dezember kamen weitere 226 und 294 Vorfälle hinzu.

Konkret gibt es einen massiven Anstieg an antisemitischen Massenzuschriften, die 2023 die meisten, nämlich 536 der insgesamt 1.147 Vorfälle ausmachten. 2022 waren es im Vergleich 140. Gleich danach kommt die Kategorie "verletzendes Verhalten", die mit 426 Fällen fast gleich blieb. Deutlich nahmen auch Sachbeschädigungen zu: 149 statt 122, wobei vor allem der Brandanschlag auf die Zeremonienhalle und die Hakenkreuzschmierereien auf dem jüdischen Teil des Wiener Zentralfriedhofes die Community traumatisierten, wie Deutsch berichtet.

Leicht zurück, nämlich von 21 auf 18, gingen die Meldungen über Bedrohungen, dafür gingen physische Angriffe wie jener anfangs beschriebene zu: 18 waren es 2023, 14 im Jahr davor. Elf der 18 tätlichen Angriffe wurden von Personen mit muslimischem Hintergrund begangen.

Die Ideologie der Täter

Wenn man die Täter und Täterinnen der jeweiligen Vorfälle nach ihrem politisch-ideologischen Hintergrund betrachtet, macht in Österreich noch immer jener Antisemitismus, der laut dem Bericht "rechts, rechtsextrem oder (neo-)nazistisch" motiviert ist, mit 34 Prozent den größten Anteil aus. Knapp gefolgt wird er von Gruppen und Personen, die "weltanschaulich beziehungsweise religiös dem Islam zuzuordnen sind, was den Islamismus einschließt", heißt es in dem Bericht. Diese Gruppe macht 25 Prozent aus. Weitere 23 Prozent waren ideologisch nicht klar zuordenbar. 18 Prozent sind dem linken bzw. linksextremen Antisemitismus zuzurechnen, etwa der "antisemitischen BDS-Bewegung und dem Antiimperialismus", liest man im Bericht der Meldestelle. Hier spiele auch eine israelfeindliche Haltung eine Rolle, wie Deutsch und der Leiter der Antisemitismusmeldestelle, Benjamin Nägele, ausführen.

Stimmen aus dem FPÖ-Lager, die sich gegen Antisemitismus äußern, beeindrucken Deutsch wenig: "Da sitzen Burschenschafter und der politische Arm der Identitären im Parlament", so Deutsch. Die FPÖ nehme die rechtsextreme Identitären "mit offenen Armen auf, "mehr möchte ich zu denen nicht sagen, sie sind es nicht wert", so Deutsch.

Die "Leichtigkeit des Seins" habe seine Gemeinschaft mit dem 7. Oktober jedenfalls verloren, viele hätten jüdische Symbole abgelegt und lebten in Angst. Dasselbe sei auch in anderen Ländern passiert, wo die Vorfälle teils um 400 oder sogar 1.000 Prozent gestiegen seien. Auch internationale Zahlen hat man zum Vergleich im Bericht abgedruckt: In Großbritannien steigen die antisemitischen Vorfälle innerhalb nur eines Monats vom September 2023 auf Oktober 2023 von 143 auf 1.330, in Frankreich im selben Zeitraum von 43 auf 563.

"Beginnt nicht in der Gaskammer"

Doch man lasse sich nicht unterkriegen. Deutsch schätze auch, dass die österreichische Regierung viel tue, allerdings wünsche er sich, dass Anzeigen auch von antiisraelischen Demos schneller vor Gericht landen.

"Antisemitismus beginnt nicht mit der Gaskammer", betont Deutsch, er beginne "mit den Gedanken, gefolgt von Worten und schreite dann zu Taten". Es sei aber nicht nur die Politik, sondern auch Zivilcourage gefragt, so Deutsch: "Das ist nicht nur das Problem der Juden, sondern der Gesamtgesellschaft, eine Gefahr für die Demokratie." (Colette M. Schmidt, 13.3.2024)