Eine Frau betet für die entführten Schulkinder im Bundesstaat Kaduna.
Eine Frau betet für die entführten Schulkinder im Bundesstaat Kaduna.
AP/Sunday Alamba

In Nigeria ist man an tägliche Nachrichten zu Entführungen eigentlich gewöhnt. Im Laufe der vergangenen zehn Monate gab es 4.700 Fälle, hat die Risikoberatungsfirma SBM Intelligence vorgerechnet – eine enorme Zahl. Zum Vergleich: In Deutschland gibt es etwa 80 Entführungsfälle im Jahr, in Österreich zuletzt ganze vier.

Doch selbst im Kontext der ausufernden Verbrechensserie schockieren die aktuellen Meldungen aus Nigeria. Am 6. März wurden 280 Kinder aus einer Schule im nordwestlichen Bundesstaat Kaduna entführt, die jüngsten sind gerade einmal acht Jahre alt. Unter den Vermissten sind auch einige Lehrer. Die bewaffneten Täter, die überwiegend auf Motorrädern unterwegs waren, brachten ihre Opfer offenbar in einen nahegelegenen Wald. Wenige Tage zuvor waren bereits 200 Binnenflüchtlinge aus dem Bundesstaat Borno im Nordosten entführt worden. Es sind die umfangreichsten Verbrechen dieser Art seit drei Jahren.

Noch hat sich niemand bekannt. Während in Borno derartige Taten Finanzierungsinstrumente der Terrororganisationen Boko Haram und Iswap sind, gibt es bei der Entführung der Kinder keine logischen Hauptverdächtigen. Lokale Medien spekulierten, es könne sich um Milizen der Al-Kaida-nahen Ansaru-Gruppe handeln. Doch es ist auch gut möglich, dass es schlicht finanziell motivierte Verbrecher waren. In Nigeria werden diese Gangs schlicht "Bandits" genannt.

Denn sie sind inzwischen weit öfter verantwortlich als Islamisten, die etwa vor zehn Jahren mit der Entführung von über 250 Schülerinnen aus dem Dorf Chibok weltweite Schlagzeilen gemacht hatten. Selbst die damalige First Lady der USA, Michelle Obama, setzte sich für ihre Freilassung ein. Noch immer sind knapp hundert in der Gewalt von Boko Haram. Damals blickte der Süden Nigerias entsetzt, aber doch aus sicherer Entfernung in den von der Gewalt erschütterten Norden. Inzwischen gibt es aber nur noch wenige Ecken im Land, in der die Freiheit nicht zum kostbaren Produkt geworden wäre.

Chinesen im Visier

Im Dezember ließ die Entführung zweier Südkoreaner aufhorchen, bei dem Angriff auf einen von der Armee geschützten Konvoi kamen vier Soldaten und zwei Zivilisten ums Leben. Anfang März fiel auch ein Chinese in kriminelle Hände. Während Nigeria politisch dem Westen näher steht, ist China wie fast überall auf dem Kontinent zum größten Handelspartner aufgestiegen. Seine gut 8.000 Bürger in Nigeria zählen zu den profitabelsten Zielen, die chinesische Botschaft warnt regelmäßig vor derartigen Verbrechen. Ein Risiko aber bleibt oft. Der gekidnappte Chinese war offenbar als Straßenbauingenieur tätig – derartige Arbeiten finden oft in strukturschwachen Gegenden statt, in der Sicherheit kaum zu garantieren ist.

Doch die überwältigende Mehrheit der Opfer sind Nigerianer. Inzwischen findet man kaum jemanden, der nicht irgendwen im Bekanntenkreis mit entsprechend traumatischen Erfahrungen hat. Gefordert werden mal wenige Hundert Euro Lösegeld, mal viele Tausend, mal auch Gegenstände wie ein Motorrad.

"Nigerias schlechte Wirtschaft schafft die Voraussetzungen für Entführungen", sagte William Linder von der Risikoberatung 14 North der BBC: "Die Lebensmittelpreise sind insbesondere in den letzten sechs Monaten in die Höhe geschossen." Auch Korruption sei weiterhin ein großes Problem. Hinzu kommen Ernteausfälle in Folge von Klimawandel und Terrorgefahr – und eine Armee, die dem Problem ebenso wenig wie Polizei und Justiz gewachsen ist.

Ausgesetzt im Wald

"Das ist eine Seuche", sagt Bishop Ameh, Angestellter einer Bergbaufirma. Seine Mutter war auf dem Weg zu einer Familienfeier, als die Entführer am helllichten Tag zuschlugen. Die Männer verbanden ihr die Augen, sperrten sie im Wald mit anderen Opfern in eine Hütte. Vier Tage dauerte das Martyrium. Von dem Handy der Mutter aus kontaktierten die Täter die Familie, forderten zuerst umgerechnet 26.000 Euro, ließen sich auf 9.000 Euro runterhandeln.

Die Familie legte ihre Ersparnisse zusammen. Nachdem Ameh das Geld zum vereinbarten Ort gebracht hatte, bekam er eine Whatsapp-Nachricht mit einer Ortsmarkierung. Mitten im Wald fand er seine Mutter. Die alte Frau wirkte unversehrt, wurde schnell aus dem Krankenhaus entlassen. "Sie behauptet, dass alles okay ist", sagt Ameh. "Wir fragen nicht nach Details. Sie will nicht darüber reden." (Christian Putsch, 14.3.2024)