Näherinnen in Dhaka
Kritiker der Richtlinie sehen bei Arbeitsbedingungen nicht private Unternehmen, sondern staatliche Institutionen in der Pflicht.
EPA/SHAHZAIB AKBER

Wenn brasilianische Konzerne den Regenwald roden oder asiatische Tech-Unternehmen Smartphones unter unwürdigen Arbeitsbedingungen produzieren, profitieren indirekt auch europäische Unternehmen und Konsumenten. Zulieferer, die es mit rechtlichen Vorgaben nicht so genau nehmen, können ihre Produkte billiger nach Europa verkaufen – auf Kosten von Menschenrechten und der Umwelt.

Die geplante Lieferkettenrichtlinie der EU setzt hier an und soll europäische Unternehmen künftig stärker in die Pflicht nehmen. Über die konkrete Ausgestaltung des Vorhabens herrscht allerdings weitgehend Uneinigkeit: NGOs sehen in dem Vorschlag der EU-Kommission einen wirksamen Hebel, um Arbeitsbedingungen in Produktionsländern zu verbessern. Wirtschaftsvertreter zweifeln an der Wirksamkeit der Richtlinie und beklagen den zusätzlichen Bürokratieaufwand.

Bisher sind mehrere Abstimmungen der EU-Mitgliedsstaaten über das Vorhaben gescheitert, unter anderem am Widerstand aus Deutschland und Österreich. Am Freitag dürfte man nun einen letzten Anlauf wagen: Zur Debatte steht ein Kompromiss, der federführend von der belgischen Ratspräsidentschaft ausgearbeitet wurde. Dem STANDARD liegt der Entwurf vor. Er legt im Wesentlichen längere Übergangsfristen fest und soll bestimmte Unternehmen von den Pflichten der Richtlinie ausnehmen.

Kleinere Unternehmen

Direkt betroffen von dem Vorhaben waren laut dem ursprünglichen Entwurf Unternehmen ab 500 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von 150 Millionen Euro. In Risikosektoren wie der Textil- oder der Lebensmittelbranche sollte eine niedrigere Schwelle von 250 Beschäftigten und 40 Millionen Euro Umsatz gelten. Der Kompromissvorschlag erhöht diese Grenze nun auf 1000 Mitarbeiter und einen Umsatz von 300 Millionen Euro, und zwar unabhängig von der Branche.

Kritiker weisen darauf hin, dass – unabhängig von diesen Schwellen – auch kleinere Unternehmen betroffen sein werden, weil größere Konzerne ihre Pflichten vertraglich weitergeben würden. Die Kommission hatte das bereits in ihrem ursprünglichen Entwurf berücksichtigt und gewisse Abhilfemaßnahmen vorgesehen. So müssen kleinere Betriebe etwa von größeren Vertragspartnern unterstützt werden, zum Beispiel über finanzielle Ressourcen.

Erst im nächsten Jahrzehnt

Abseits der neuen Größenkriterien soll es laut dem Kompromissentwurf deutlich längere Übergangsfristen geben. Unternehmen mit mehr als 5000 Mitarbeitenden müssten die Vorgaben erst drei Jahre nach Inkrafttreten der nationalen Gesetze einhalten, Unternehmen ab 3000 Mitarbeitern nach vier Jahren und jene mit mehr als 1000 Mitarbeitern nach fünf Jahren. Für viele Betriebe würde die Richtlinie damit erst Anfang des nächsten Jahrzehnts schlagend werden.

Auch inhaltlich gibt es Änderungen. Schon im bisherigen Entwurf sollte die geplante zivilrechtliche Haftung für Menschenrechtsverstöße und Umweltschäden nur in Ausnahmenfällen greifen. Im Kompromissvorschlag sollen die EU-Mitgliedsstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie einen noch weiteren Spielraum haben. Boni für Manager müssen sich, anders als zunächst vorgesehen, zudem nicht mehr an den EU-Klimazielen orientieren.

"Deutlich verwässert"

Laut Andreas Rasche, Professor an der Copenhagen Business School, könnte der Kompromiss das Vorhaben "retten", auch wenn ihn wohl niemand der Befürworter gut finden würde. Die Richtlinie sei bereits in den Verhandlungen zwischen den EU-Institutionen deutlich abgeschwächt worden. Der neue Entwurf verwässere sie nun zusätzlich. Man sei dabei so weit gegangen wie möglich, ohne die Richtlinie völlig irrelevant zu machen, sagt Rasche.

"Die belgische Ratspräsidentschaft versucht offenbar alles, um die Richtlinie in den letzten Sekunden noch durchzuboxen", sagt Rechtsanwalt Christian Richter-Schöller. Der neue Entwurf beinhalte bedeutende Zugeständnisse an die Kritiker. Das nehme dem Vorhaben jedoch nichts an seiner grundlegenden Schärfe. Kritiker wie die Wirtschaftskammer (WKO) oder die Industriellenvereinigung (IV) werden deshalb wohl auf ihren Standpunkten bleiben.

Ergebnis offen

Ob es am Freitag zu einer Einigung unter den Mitgliedsstaaten kommt, ist offen. Vom deutschen Arbeitsministerium hieß es auf Anfrage des STANDARD, dass die Bundesregierung die Kompromissvorschläge der belgischen Ratspräsidentschaft bewerte und die Beratungen zum Abstimmungsverhalten andauern. Denkbar ist aber auch, dass die Richtlinie ohne Zustimmung Deutschlands angenommen wird. Das wäre dann möglich, wenn Frankreich und Italien mit dem Kompromissvorschlag zufrieden wären. Dem Vernehmen nach hat Italien seine Zustimmung an andere Vorhaben geknüpft, vor allem an die neue Verpackungsverordnung, über die ebenfalls abgestimmt werden könnte.

Selbst wenn sich die Mitgliedsstaaten am Freitag auf einen neuen Entwurf einigen, wäre die Richtlinie noch nicht endgültig fix. Zwar hat es bereits vergangenes Jahr eine vorläufige Einigung mit dem EU-Parlament gegeben, aufgrund der weitgehenden Änderungen könnten allerdings auch die Parlamentarier noch einmal Gegenvorschläge machen. Die Uhr tickt: Bis zur EU-Wahl im Juni sind es nur noch drei Monate. (Jakob Pflügl, 15.3.2024)