Michel Friedman in der Wiener Hauptsynagoge in der Seitenstettengasse in Wien, wo er am Mittwochabend zu Gemeindemitgliedern sprach.
Michel Friedman in der Wiener Hauptsynagoge in der Seitenstettengasse in Wien, wo er am Mittwochabend zu Gemeindemitgliedern sprach.
IKG/Schmidl

Der deutsch-französische Publizist Michel Friedman hielt am Mittwoch im Wiener Stadttempel ein Plädoyer für den Kampf gegen "autoritäre Zerstörer der Demokratie". Friedman spricht bewusst von "Judenhass" – so lautet auch der Titel seines neuen Buches –, nicht von Antisemitismus. Vor der Veranstaltung sprach er mit dem STANDARD.

STANDARD: Sie haben im Mai 2023 im Nationalrat für Aufsehen gesorgt, weil Sie die FPÖ und ihre mehrmaligen Koalitionspartner in der ÖVP kritisierten.

Friedman: Ich konnte nur besonders wirken, weil viele, die das auch längst hätten sagen können, geschwiegen haben. Das ist das Problem aller demokratischen Gesellschaften, dass seit Jahren das Antidemokratische, das Gift des Autoritären, immer mehr in unsere Demokratien einträufelt und unsere Reaktionen unterkomplex sind. Dabei war Österreich ja die Premiere von Rechtsextremen in einer Regierung in der Europäischen Union. Ich erinnere an Jörg Haider und Wolfgang Schüssel. Dass es die FPÖ damals mit Haider gegeben hat, ist schon ein schlimmer Befund für eine Gesellschaft. Aber letztendlich trägt die Verantwortung, dass sie Macht bekam, die ÖVP. Dieser unverzeihbare Fehler wirkt bis heute nach, verändert die Gesellschaft. Hass, auch Judenhass, wurde zum Alltag in der Demokratie. Weil die FPÖ mit ihrem Menschenhass mit den Elementen der Macht unterwegs ist, vernebelt das den Kern der FPÖ.

STANDARD: Sie waren vor 30 Jahren im Bundesvorstand der CDU. Ist sie in dieser Frage mit der ÖVP vergleichbar?

Friedman: Eben nicht, weil es in Deutschland bis heute mit der AfD auf Länder- und Bundesebene keine Koalition gibt. Die CDU würde sich spalten, wenn die Parteispitze mit der AfD koalieren würde.

STANDARD: Aber wird das so bleiben?

Friedman: Es ändert nichts daran, dass auch in Deutschland die mittlerweile wertlose Formulierung der Spitzenpolitik "Wehret den Anfängen" ihre Substanz verloren hat. Denn die AfD ist zweimal im Bundestag wiedergewählt worden und damit keine Eintagsfliege mehr. Ich glaube, dass die jetzt heftigere Reaktion der etablierten Parteien auf die AfD ausschließlich dem geschuldet ist, dass sie merken, dass die AfD machtpolitisch zum Problem wird.

STANDARD: Heftige Reaktionen gab es auch auf das rechtsextreme Geheimtreffen bei Potsdam.

Friedman: Die rund vier Millionen, die jetzt demonstriert haben, haben in der Tat etwas mit Potsdam zu tun. Ich arbeite am Berliner Ensemble, und wir haben bewusst entschieden, das auf die Bühne zu bringen. Die Informationen waren schon in Medien verhandelt worden. Aber durch die Sichtbarmachung auf einer Theaterbühne, also die Vermenschlichung dessen, wurde erst bewusst, um welche unglaublich aggressive und menschenverachtende Gruppe es sich da handelt. Als dann klar wurde, es geht bei Remigration um Deportation und dass das jeden Einzelnen betreffen kann, egal, wo man herkommt, hat man verstanden: Jetzt kann es Millionen Menschen treffen. In dem Moment, wo es eben nicht nur die Minderheit, nämlich wie am 7. Oktober das Judentum, treffen könnte, wo ja die Reaktionen, die Empathie und der Protest in Europa sehr gering waren, da waren dann die Millionen in Deutschland auf der Straße. Dem Livestream aus dem Berliner Ensemble haben ungefähr 20.000 bis 30.000 Menschen zugeschaut. In derselben Nacht und am Tag danach haben ganz normale Bürger dann Demos angemeldet für das Wochenende. Das waren weder Parteien noch Gewerkschaften, das waren Individuen. Ein interessanter, basisdemokratischer Reaktionsweg, aber er kommt furchtbar spät. Ob er nachhaltig ist, werden wir sehen.

Michel Friedman bei seinem Vortrag nach dem Interview am Mittwoch.
Michel Friedman bei seinem Vortrag nach dem Interview am Mittwoch.
IKG/Schmidl

STANDARD: Ihr Buch "Judenhass" ist direkt als Reaktion auf das Massaker am 7. Oktober entstanden. Sie waren nicht überrascht von den zurückhaltenden Reaktionen in Europa?

Friedman: Nein. Sie können die Entwicklung auch in Österreich nachvollziehen. Als Jörg Haider und Schüssel eine Koalition gegründet haben, hatte ich die Ehre, als damaliger Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses auf dem Heldenplatz zu reden. Da waren noch Hunderttausende dabei. Als die Koalition von Sebastian Kurz mit der FPÖ stattfand, waren es einige zerstreute. Sie sehen, wie in 20 oder 24 Jahren die Messlatten, die Wirbelsäulen der Menschen anpassungsfähig sind. Ich bin zwar ein Repräsentant der jüdischen Gemeinde gewesen, ich bin auch heute noch ein jüdischer Mensch. Aber engagiert habe ich mich als Mensch, als Bürger, als Demokrat. Daran hat sich ja nichts geändert. Was gesagt werden kann, ist heute viel brutaler, die geistige Brandstiftung ist viel offener, enthemmter und weniger schambesetzt. Trotzdem ist unsere Reaktion darauf gelassener. Wie kann man gelassen sein, wenn man sieht, was für eine Energie die Zerstörer des Demokratischen haben? Die Tatsache, dass Parteien demokratisch gewählt werden, macht sie nicht zu demokratischen Parteien. Die FPÖ ist keine demokratische Partei, weil sie den Menschenrechten nicht Respekt zollt, im Gegenteil, sie unterteilt Menschen in erste und zweite Klasse.

STANDARD: Es gibt Verfahren in Rechtsstaaten, um Parteien wegen demokratiefeindlicher Inhalte zu verbieten. Die AfD beobachtet in Deutschland der Verfassungsschutz, die FPÖ der Verfassungsschutz in Österreich nicht.

Friedman: Ich bin erstaunt darüber, dass in Österreich der Verfassungsschutz die FPÖ nicht als das beobachtet, was sie ist, nämlich eine verfassungsfeindliche Partei. In Deutschland warten wir jetzt nur noch auf ein Urteil für die Gesamtpartei, aber mehrere Landesverbände sind eindeutig eingestuft. Dass das in Österreich nicht stattfindet, ist ein Skandal, eine Unterlassung. In Österreich untersteht der Verfassungsschutz als Behörde einem politisch besetzten Ministerium.

STANDARD: Und damit einer Partei, der ÖVP.

Friedman: Wenn in der Bundesregierung nicht das Bedürfnis besteht, die FPÖ wenigstens zu beobachten, ist das nur erklärbar aus dem Opportunismus der ÖVP, nicht bescheinigt zu bekommen, dass sie vielleicht auch bei der nächsten Wahl mit einer Partei koaliert, die skandalös menschenverachtend ist. Keiner kann heute sagen, er hätte nichts gewusst. Keiner kann heute sagen: Ich wasche meine Hände in Unschuld. Das gilt auch für die israelitische, jüdische Gemeinschaft. Wer die ÖVP heute nicht direkt angreift, macht sich die Hände schmutzig.

STANDARD: Seit der ersten ÖVP-FPÖ-Koalition hat sich auch Europa sehr verändert.

Friedman: Trotzdem war die ÖVP in der Entwicklung der europäischen Rechtsextremisten die erste Partei, die eine Koalition mit ihnen einging. Reden wir über Europa und was damals noch möglich war. Ich erinnere mich, dass Kanzler Schröder und Joschka Fischer damals zufällig mit mir im gleichen Hotel waren, als ich von meiner Rede zurückgekommen bin. Wir haben uns dann zusammengesetzt, und da gab es dann die Idee von deutscher Seite, dass man Österreich für sechs Monate in der Europäischen Union die Rechte entzieht. Stellen Sie sich vor, man würde das heute machen.

"Ich bin äußerst besorgt, ob in zehn Jahren die Europäische Union noch eine Union ist, die den Menschenrechten der UN-Charta und den eigenen europäischen Menschenrechten verpflichtet ist."

STANDARD: Dann hätte man Ungarn schon längst diese Rechte entzogen.

Friedman: Daran sehen Sie die dramatische Entwicklung. Ungarn, bis jetzt Polen, da gibt es jetzt Hoffnung, Italien – ich bin äußerst besorgt, ob in zehn Jahren die Europäische Union noch eine Union ist, die den Menschenrechten der UN-Charta und den eigenen europäischen Menschenrechten verpflichtet ist. Und wenn man sich überlegt, dass es keine geringe Wahrscheinlichkeit gibt, dass Trump der amerikanische Präsident wird, dann mache ich mir große Sorgen um die Zukunft der Demokratie. Nimmt man hinzu, dass Xi Jinping und Wladimir Putin uns in einer öffentlichen Fernsehansprache mitgeteilt haben, dass das 21. Jahrhundert das Jahrhundert der Autokratien und nicht mehr der liberalen Demokratien ist, dann mache ich mir Sorgen um hunderte Millionen Menschen, die bisher in Freiheit leben konnten.

STANDARD: Zurück zur CDU. Wird sie ihre Haltung zur AfD beibehalten?

Friedman: Heute ist eine Koalition mit der AfD noch eine rote Linie. Ich glaube auch, dass wenn die CDU jetzt in den drei nächsten Wahlen in den Ostländern auch nur einen Millimeter zur AfD hingehen würde, sie die Bundestagswahl 2025 verliert. Sie wird die Wahl, wenn überhaupt, nur gewinnen können, weil sie diesen Abstand hält. Aber es stellt sich auch die Frage, was passiert, wenn dann doch die AfD eine Minderheitenregierung stellt. Was passiert, wenn ein Ministerpräsident der AfD im Bundesrat sitzt und in der Bundespolitik mitmischt? Welche weitere Enthemmung wird es geben? Zu sagen, die meinen das alles nicht, ist Verdrängungsmethodik, die zu einem Bumerang führen wird. Wenn man geschichtlich zurückblickt: Autoritäre, menschenverachtende Parteien meinen es immer ernst.

STANDARD: Das wird aber verdrängt.

Friedman: Das ist kein Problem des Judentums. Der Hass hat Hunger, und der Hass wird nie satt. Wir sind nicht einmal eine Vorspeise. Der Hass wird jeden auffressen.

STANDARD: Seit dem 7. Oktober sind antisemitische Vorfälle massiv gestiegen. Wo ziehen Sie die Grenze zwischen Israel-Kritik und Judenhass?

Friedman: Die israelische Regierung zu kritisieren ist keine Heldentat, sondern banal. Die Israelis kritisieren zum Teil die Regierung selbst heftig. Zu erzählen, man dürfe nicht, man könne nicht, ist auch banal. Man kann und man darf. Es gibt österreichische Juden, die das tun, deutsche Juden, die das tun. Warum sollen das Nichtjuden nicht tun dürfen? Die Grenze ist dort, wo die Vernichtungsfantasie dazukommt, wo man die Zerstörung des Staates Israel mitformuliert. Eine Vernichtungsfantasie wie jene der Nazis. Auch ich engagiere mich für Palästinenser. Ich will jetzt nicht betonen müssen, dass ein totes palästinensisches Kind für mich denselben Schmerz hervorruft wie ein totes israelisches Kind. Aber Ursachen und Wirkungen zu verwechseln, finde ich in der Analyse schwierig. Erstens hat die Hamas angegriffen. Zweitens sind immer noch Geiseln in deren Haft. Man kann drittens darüber verhandeln, ob die Verhältnismäßigkeit der israelischen Armee noch gewährleistet ist. Auch da würde ich niemanden deswegen einen Antisemiten nennen. Aber wenn ich mir Nordkorea, Iran, Saudi-Arabien, Katar, Jemen oder Russland, China ansehe, frage ich mich: Wo ist da das Engagement all dieser Menschen, die jetzt gegen Israel protestieren?

"Wo sind die 150.000, die gegen Kickl demonstrieren? Solange sie nicht demonstrieren gegen Kickl, aber immer den Mund aufreißen gegen die Regierung Netanjahu, gegen die ich aufstehe, erscheint mir das jedenfalls als eine Doppelmoral."

Da würde ich gerne einen Test machen zwischen Moral und Doppelmoral. Wobei ich das nicht aufrechnen möchte, im Gegenteil. Ein weiterer wichtiger Punkt: Vor dem Krieg haben ungefähr 150.000 Israelis Woche für Woche gegen eine rechtsextreme, radikal religiöse Regierung protestiert. Ich würde es auch tun. Es gibt keinen Unterschied, ob ich gegen die FPÖ hier meine Meinung sage oder Herrn Ben-Gvir (Minister für Öffentliche Sicherheit von Israel, Anm.). Er ist für mich genauso eine politische Zumutung wie Herr Kickl. Wo sind die 150.000, die gegen Kickl demonstrieren? Solange sie nicht demonstrieren gegen Kickl, aber immer den Mund aufreißen gegen die Regierung Netanjahu, gegen die ich aufstehe, erscheint mir das jedenfalls als eine Doppelmoral. Ich möchte auch, dass Palästinenserinnen und Palästinenser in Frieden und Freiheit leben. Aber wer hat denn die Milliarden ausgegeben, um eine Stadt unter der Stadt zu bauen, statt die schönste Stadt der Welt aufzubauen? Die Hamas. Wer hat nicht dagegen revoltiert? Die zwei Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser. Sie leben unter einer Terrorherrschaft. Den Sündenbock in Israel zu suchen, da macht es sich die Welt zu leicht. Das ändert nichts daran, dass die Regierung Israels für mich auch eine ist, die nach meiner Grundüberzeugung einen demokratischen Staat nicht regieren soll. (Colette M. Schmidt, 15.3.2024)