Tuvia Tenenbom
Tucht in seiner Reportage auch sich selbst: Tuvia Tenenbom.
Anna Weise / SZ-Photo / pictured

Jerusalem ist die Stadt, von der besonders viele Menschen glauben, dass man hier Gott am nächsten sein kann. Hier stand einmal der jüdische Tempel, hier ist der Berg Zion, und hier befindet sich eine Moschee, die den Muslimen fast so heilig ist wie Mekka und Medina. In Jerusalem gibt es aber ein Viertel, in dem man Gott vielleicht sogar noch näher sein kann als auf dem Tempelberg. Es heißt Me’a Sche’arim, hier leben die Ultraorthodoxen.

Man kennt die Bilder, man kennt die Klischees: Männer mit Schläfenlocken und großen Hüten, züchtig bekleidete Frauen neben ihnen und eine Kinderschar. Viertel wie Me’a Sche’arim gibt es auch in Wien und in New York. Die Charedi, so werden sie genannt, sind im Grunde einfach "fromme Personen". Zur Frömmigkeit kommen aber viele Regeln, sehr viel mehr als die 613 Mizwot (Gebote und Verbote) des eigentlichen jüdischen Gesetzes.

Famose Reportage

Dieses wurde in der Bibel niedergelegt, seither wurde die Bibel ausgelegt, und in Me’a Sche’arim ist das Studium dieser Auslegung das tägliche Brot. Die Fernsehserie Shtisel gab zuletzt einen guten Einblick in diese Welt. Nun gibt es auch noch eine famose Reportage über die Welt der jüdischen Ultraorthodoxie.

Tuvia Tenenbom ist als Autor für diese Aufgabe geradezu berufen. Er kommt nämlich aus Me’a Sche’arim, hat seither aber seinen Horizont deutlich erweitert und ist auch in New York und in Berlin zu Hause. Er ist Autor einer sehr erfolgreichen Reihe von Büchern, in denen er immer als Einzelner einer Gruppe gegenübersteht: Allein unter Deutschen, Allein unter Amerikanern, Allein unter Flüchtlingen. Auch über Israel hat er so schon einmal geschrieben (Allein unter Juden), nun geht er ins Innerste von Israel. Und er gibt dafür sogar seine Formel auf.

Zuweilen komisch

Sein Buch heißt Gott spricht Jiddisch. Mein Jahr unter Ultraorthodoxen. In Me’a Sche’arim ist Tenenbom eben nicht allein, er ist unter seinesgleichen. Ein gewisses Befremden stellt sich aber doch ein, es löst sich meistens komisch auf, nicht selten hochkomisch.

Schon das erste Kapitel hat es in sich. Tenenbom beschreibt darin, wie er im Alter von 14 Jahren auf einen vermutlich literarisch nicht allzu hochwertigen Roman stieß, in dem eine Begegnung zwischen einem John und einer Patricia beschrieben wird. Sie treffen sich zu einem Candlelight-Dinner, und anschließend geht es zur Sache. In einer Welt, in der Ehen arrangiert werden und in der umstritten ist, ob Männer jemals das Haar ihrer Frau sehen dürfen, sorgt Trivialliteratur zuerst für Verstörung, erweist sich dann aber als erster Schritt ins Freie. Patricia (in welchem vorgestellten Bekleidungszustand auch immer) ist auch dann noch bei Tenenbom, als er für seine Recherche nach Me’a Sche’arim zurückkehrt. Er lässt sich inspirieren von einer Erotik der Erkenntnis, die nicht zufällig mit der Frage beginnt: Darf ein Mann eine schöne Frau anschauen?

Tenenbom macht kein Hehl daraus, dass er sehr gern schöne Frauen anschaut. Im Berliner Bobo-Stadtteil Prenzlauer Berg sitzt er gern in Cafés und studiert "deutsche Ladys" und speziell deren Beine. Charedi glauben, dass sich unter der Kleidung von Frauen der Satan verbirgt. Tenenbom möchte nun wissen: Wo steht das? Woher genau kommt diese Auffassung? Und er stellt fest: "Niemand weiß es. Eigentlich weiß niemand irgendetwas."

Tuvia Tenenbom, "Gott spricht Jiddisch. Mein Jahr unter Ultraorthodoxen". Aus dem Englischen von Michael Adrian. € 20,60 / 575 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2023
suhrkamp Verlag

Zuspitzungen

Das ist eine Zuspitzung des Umstands, dass im ultraorthodoxen Judentum ein großer Pluralismus herrscht, der sich aus der Organisationsform erklären lässt: Menschen treten in Beziehung zu einem geistlichen Idol, einem Rabbi oder noch besser einem Rebbe. Was ist ein Rebbe? Ein Rebbe ist jemand, der die Menschen "geistig erhebt". Ein Rebbe ist eine Art Wunderrabbi.

Tenenbom lässt sich alles x-fach erklären, er stellt Fragen und vor allem Nachfragen. Er spielt einen Inspektor Columbo, der keinen Mord aufklären will, sondern sich selbst. Sein Gestus ist dabei durchaus ironisch, er ist aber auch hingerissen von vielen Erscheinungsformen des orthodoxen Judentums, nicht zuletzt kulinarischen. Gutes Essen verweist auf den Himmel, und wenn die Muslime an Jungfrauen im Jenseits denken, so denkt Tuvia Tenenbom an "einen Biss Kugel" (eine Art Auflauf in allen erdenklichen, immer köstlichen Varianten) und an Gefilte Fisch.

Bei aller Sympathie für eine fremde und seltsame Welt, die auch seine eigene ist, endet Gott spricht Jiddisch. Mein Jahr unter Ultraorthodoxen deutlich religionskritisch: Du sollst Gott nicht mit deinem Rebbe verwechseln. So würde ein wichtiges Gebot bei Tuvia Tenenbom lauten. (Bert Rebhandl, 15.3.2024)