Der bei der Biennale ausgezeichnete US-Regisseur Ben Russell (links) und seine Darstellerin Servan Decle (2. v. rechts) kamen zur Preisverleihung mit Palästinensertuch. Die Gräuel der Hamas wurden von ihm nicht erwähnt, ein von ihm so benannter
Der bei der Biennale ausgezeichnete US-Regisseur Ben Russell (links) und seine Darstellerin Servan Decle (2. v. rechts) kamen zur Preisverleihung mit Palästinensertuch. Die Gräuel der Hamas wurden von ihm nicht erwähnt, ein von ihm so benannter "Genozid" Israels an den Palästinensern schon.
EPA/CLEMENS BILAN

In der Kulturszene herrscht wieder einmal Bekenntnisdrang – oder oft auch -zwang. Seit dem Terrormassaker der islamistischen Hamas an der israelischen Zivilbevölkerung, ungleich mehr aber noch seit Beginn des militärischen Einmarschs Israels in den Gazastreifen ist der Druck groß, sich entscheiden zu müssen. Als ob die Dinge so einfach wären.

Da werden von der Biennale Venedig bis zum Eurovision Song Contest Boykotte gegen Israel gefordert; da verurteilen Filmschaffende auf der Berlinale in Palästinenserschals gehüllt einseitig den Krieg in Gaza, ohne das Hamas-Massaker auch nur zu erwähnen; da besprühen und zerschneiden Pro-Palästina-Aktivisten ein Porträt des britischen Außenministers Arthur Balfour (1848–1930), weil sie ihn und seine Erklärung von 1917 als Grundübel des Konflikts erkennen wollen, obwohl dieses Dokument sogar auf die Rechte nichtjüdischer Volksgruppen in Palästina pochte.

Und dann sind da noch die Intellektuellen, Meinungsmacherinnen wie die Philosophin und Begründerin der Gendertheorie, Judith Butler, selbst als Jüdin geboren, die bei einer Diskussionsveranstaltung die Hamas sinngemäß als verständliches Ärgernis verharmlost und sogar in Zweifel zieht, dass die Vergewaltigungen und sexualisierten Tötungen von israelischen Jüdinnen durch die Hamas wirklich stattgefunden hätten – obwohl diese durch Medien, NGOs, forensische Untersuchungen und Zeugenberichte zigfach dokumentiert sind.

Die israelische Soziologin Eva Illouz sprach Butler für so viel Ignoranz gegenüber sexualisierter Gewalt nicht nur deren fast schon kultartigen Status als Feministin ab, sie weigert sich fortan auch, Butler als Vertreterin der Linken zu bezeichnen. Butler wiederum beklagte, sie sei verkürzt wiedergegeben worden, sie trauere um die Opfer auf beiden Seiten, bestehe aber darauf, dass es ihr um Verständnis für den Konflikt gehe: "Verstehen bedeutet nicht rechtfertigen, legitimieren, gutheißen."

Wiederbelebte linke Traditionen

Nun mag man sich fragen, warum der Konflikt gerade im Feld der Kultur derart hart ausgetragen wird. Abgesehen von schlichten PR-Überlegungen, wonach Protest bei Kulturevents viel Medienaufmerksamkeit und Beifall bringt, ist das kurz gesagt: die Tradition. Antizionismus, also den Staat Israel als illegitimes koloniales Projekt abzulehnen, war Common Sense in der linken 68er-Bewegung, deren nachhaltigste Errungenschaften im Feld der Kultur stattfanden. Die Grenze zum Antisemitismus war bei den direkten Nachkommen der Nazigeneration durchlässig, der Drang, gegen alles zu sein, was vom Feindbild, den kapitalistisch-imperialistischen USA, befürwortet wurde, war groß. Spätestens ab den 1990er-Jahren schien diese Haltung zusehends zu verblassen.

Nun, Jahrzehnte später, kommt all das zurück – unter verschärften politischen Bedingungen, denn die Politik von Israels Premier Benjamin Netanjahu wird selbst über politische Grenzen hinweg abgelehnt, aber auch aufgrund neuen Personals: Der Siegeszug von Postcolonial Studies und Identitätspolitik an den Universitäten fußt u. a. auf dem an sich begrüßenswerten Anstieg migrantischer, muslimischer, diverser Studierender. Sie bringen andere Sozialisierungen, Erfahrungen, Sichtweisen ein – kein Wunder, dass der Nahostkonflikt davon nicht unberührt bleibt.

Dem stehen konservative bis rechte Politiker gegenüber, die bei jeder Kritik an Israels Politik reflexhaft "Antisemitismus" schreien und den Begriff so auch missbrauchen, um antimuslimische Stimmung zu schüren. Wenn unliebsame Linke im Kulturbetrieb dadurch gleich mitdiskreditiert werden – umso besser. Wo aber zieht man die Grenze? Wann wird Kritik an Israels Politik antisemitisch?

3D-Test, um Antisemitismus zu erkennen

Der israelische Politiker Natan Scharanski popularisierte dafür einen 3D-Test: Antisemitismus liege vor, wenn "Dämonisierung", "Doppelstandards" oder "Delegitimierung" gegenüber Israel angewandt würden.

Dämonisierung in Form von verteufelnder Rhetorik oder Bildsprache ist noch recht einfach zu erkennen. Delegitimierung meint, Israel entgegen dem Selbstbestimmungsrecht der Völker das Existenzrecht abzusprechen. Doppelstandards können überall dort erkannt werden, wo etwa einseitig der israelische Einmarsch in Gaza verurteilt wird, ohne auf den Hamas-Angriff hinzuweisen. Oder wenn Israel, wie bei den Boykottaufrufen durch BDS, seit Jahren wichtiger genommen wird als andere Staaten, die bewaffnete Konflikte austragen: Nur wenige kämen auf die Idee, türkische Kunstschaffende zu boykottieren oder Auftrittsverbote für westliche Künstler in Istanbul zu fordern, weil der türkische Präsident Kurden verfolgt und in Syrien interveniert.

Anstatt, wie auf Palästinenserseite üblich, Genozidvergleiche anzustellen oder, wie beim Gegenüber auffällig, reflexhaft Antisemitismus zu rufen, gilt es, genau hinzusehen. Und jene Stimmen zu stärken, die Komplexität glaubhaft anerkennen. Eva Illouz ist so eine Stimme, wenn sie im Debattenmedium Der Freitag das wohl wahre Grundübel benennt: "Die Palästinenser sind ebenso wie die Israelis von internen Konflikten zwischen Fundamentalisten und Pragmatikern zerrissen." (Stefan Weiss, 16.3.2024)