Jim und William Reid alias The Jesus And Mary Chain geben noch immer die lichtscheuen Rock'n'Roll-Schlurfe
Jim und William Reid alias The Jesus And Mary Chain geben noch immer die lichtscheuen Rock-'n'-Roll-Schlurfe.
Fuzz Box

1985 konnte man als DJ beim Auflegen dieser Platte ab Mitternacht tatsächlich noch Raufhändel provozieren. Wenn die dramatisch verzerrten Gitarren rückkoppeln und im Feedback kreischen, kann schon einmal eines passieren: Die Leute werden bei entsprechenden anderen Pegeln als der Lautstärke intus ein wenig fuchtig. Das besagte Album nennt sich Psychocandy und stammt von der ein Jahr zuvor 1984 in Glasgow gegründeten Band The Jesus and Mary Chain. Die heute im Pensionsalter befindlichen, ewig zerstrittenen Brüder Jim (Gesang) und William (Gitarre) Reid gaben nicht nur die prototypische Vorlage zum späteren Bruderzwist im Hause Oasis.

Weil es ja auch langfristig nicht froh macht, wenn man immerzu neben einem Trottel aus der Verwandtschaft auf der Bühne stehen oder im Tourbus sitzen und während Studioaufnahmen vielleicht sogar miteinander reden muss, nur weil die Mama gesagt hat, dass man sich gefälligst vertragen soll, flogen nicht nur privat die Fetzen. In knapp gehaltenen Songpreziosen wie Just Like Honey, You Trip Me Up oder Never Understand wurden liebliche Melodien mit einer brutalen Lärmwand gegen allzu große Radiotauglichkeit abgesichert.

Konzerte dauerten oft nur 20 Minuten. Es gibt ja gewisse Substanzen, die bei forscher Einnahme bewirken, dass man schneller mit allem fertig ist. Eine spätere Kompilation mit diversen musikalischen Seltsamkeiten der Band nannte sich The Sound of Speed. Auch bei den ohnehin schon chaotischen Auftritten gab es damals dauernd Wickel. Die Fachwelt war begeistert.

The Jesus and Mary Chain Official

Dabei verstecken sich bei The Jesus and Mary Chain, die jetzt rechtzeitig zum 40-Jahr-Jubiläum der Band nicht nur ein neues Album namens Glasgow Eye veröffentlichen, sondern am 19. April auch das Donaufestival in Krems mit spätem Glanz erhellen werden, immer schon wunderbare nostalgische Melodien. Die verweisen nicht nur auf eine gewisse, eher grobianische Umsetzung seligmachender Harmonien der Beach Boys, der Shangri-Las oder der Wall of Sound des verrückten Produzentengenies Phil Spector aus den 1960er-Jahren.

Mit Lederjacken, Sonnenbrillen, obwohl die Sonne nachts nicht scheint, gelangweilt hängenden Mundwinkeln und einer gewissen nachlässigen, die Körperspannung betreffenden Haltung an Gitarre und Mikrofon wurden diese Zutaten noch um die Coolness von Gründerzeitpunks wie The Velvet Underground, The Stooges oder Suicide erweitert. Einfache Grundakkorde, wuchtiger Viervierteltakt, emotionslos gemurmelter, monotoner Gesang: Damit gelten The Jesus and Mary Chain mit ihren dem wüsten Debüt nachfolgenden Alben wie den weit weniger Hörsturz verursachenden Arbeiten Darklands (1987) oder Automatic (1989) neben den Bands Spacemen 3, My Bloody Valentine oder den Cocteau Twins als Mitbegründer des Shoegaze-Genres: Menschen, die bei Liveauftritten auf ihre Schuhe starren.

The Jesus and Mary Chain Official

Das neue Album Glasgow Eye, mit dem die immer noch nicht besten Freunde Jim und William Reid derzeit touren, weicht keinen Zentimeter von der einmal erstellten Grundformel ab. Mit Songs wie Girl 71, Chemical Animal oder dem tollen, an Sigue Sigue Sputniks Trash-Rock'n'Roll erinnernden Venal Joy wird allerdings vermehrt auf kräftesparende elektronische Sounds vertraut, zu denen man bei Konzerten auch noch cooler als je zuvor als Trauerweide herumhängen kann. (Christian Schachinger, 21.3.2024)