Jössas! Kürzlich warnten Wissenschafter davor, tote Verwandte mittels künstlicher Intelligenz (KI) wiederzubeleben. Ihre Befürchtung: Diese "generativen Geister" könnten gar zu Gottheiten (!) werden. Kein Wunder, dass sich die katholische Kirche da bemüßigt fühlt, eigens einen KI-Spezialisten in den Vatikan zu berufen, der Gottes Stellvertreter auf Erden über die Chancen und Risiken der neuen Technologie beraten soll. Ob es bald eine röm.-kath. KI geben wird? Wer weiß.

Eine Kathedrale für Jüngerinnen und Jünger des
Eine Kathedrale für Jüngerinnen und Jünger des "iGod": Der Apple Store auf der Fifth Avenue in New York City.
APA/AFP/JOHANNES EISELE

Machen wir die Probe aufs Exempel. Woran glaubst du, Copilot? "Als KI-Assistent habe ich keine persönlichen Überzeugungen oder Glaubenssysteme", steht auf dem Bildschirm. Was ande­res war auch nicht zu erwarten. Wäre ja noch schöner, wenn sich das Ding als Hardcore-Evangelikaler oder Islamist entpuppt. Oder noch schlimmer als Hohepriester für die Church of Micro­soft, jenen Konzern, dem es angehört, missionieren geht: "Windows ist der einzige wahre Gott. Du sollst keine anderen Betriebssysteme haben neben mir!"

Religiöse Züge

Das würde den Anhängern des "iGod" aka Steve Jobs selig gar nicht schmecken. Denn für Apple-Jüngerinnen und -Jünger ist Microsoft schlicht der Satan. Für sie ist Apple längst nicht mehr bloß irgendeine Marke. Sie wird fast schon abgöttisch verehrt. Dem Konzern mit der sündigen Frucht im Logo ist es gelungen, die Menschen emotional an sich zu binden, inklusive Wallfahrten zum gleichnamigen gläsernen Tempel vulgo Store. Beispiellos in der Wirtschaftsgeschichte, wie einige Beobachter meinen. Dass man sich in Bezug auf Inszenierung und Co einiges bei der Kirche abgeschaut hat, ist wohl kein Zufall.

Der Mensch baut sich profane Kirchen. Das Seelenheil wird im Diesseits in materiellen Dingen gesucht.
Der Mensch baut sich profane Kirchen. Das Seelenheil wird im Diesseits in materiellen Dingen gesucht.
Midjourney

Copilot jedenfalls behält in Glaubensdingen Gott sei Dank eine gesunde Neutralität. Und dennoch nimmt auch die Diskussion um KI fast schon religiöse Züge an. Je nachdem, wen man fragt, wird sie als Heilsbringer und Lösung all unserer Probleme gehandelt. Oder eben als Vorbote der Apokalypse. Ob sie dem Vatikan dabei helfen kann, die Schäflein wieder auf den rechten Pfad, in den Schoß der Mutter Kirche zurückzuführen? Die Chancen stehen eher schlecht.

"Endsieg des Kapitalismus"

Zumindest in den westlichen Gesellschaften hat man sich längst von der Bannkraft des christlich-jüdischen Mythos mit paradiesischem Anfang, Sündenfall, irdischem Jammertal und der Erlösung durch den Messias abgewandt. Mit der Aufklärung, der Befreiung aus der geistigen Unmündigkeit, spätestens seit dem "Endsieg des Kapitalismus". Das Seelenheil wird nicht mehr im Jenseits erhofft, sondern im Diesseits mit materiellen Dingen angestrebt.

Künstliche Intelligenz: Bringt sie Heil oder doch die Apokalypse?
Künstliche Intelligenz: Bringt sie Heil oder doch die Apokalypse?
EPA/Robert Ghement

Kritik haben Religion und Kirche (und ihr Personal) ja schon ordentlich einstecken müssen. Nach Ludwig Feuerbach ist das Göttliche die Projektionsfläche menschlicher Ängste, Karl Marx entlarvte die Religion als Manipulation der Beherrschten durch die Herrschenden, der Trost der Religion als einen "Schrei der bedrängten Kreatur". Sigmund Freud galt Religion gar als eine universelle Zwangsneurose. Et cetera.

Spirituell am Zahnfleisch

Da lacht sich der Agnostiker ins Fäustchen und nickt zustimmend. Muss aber auf der anderen Seite feststellen, dass diese geistige Freiheit nach dem "Absterben" der Religiosität, dieses Relikts der Unmündigkeit, in der säkularisierten Gesellschaft zu einer inneren Leere geführt hat. "Die Gesellschaft ist spirituell am Zahnfleisch", sagt dazu etwa der Schweizer Dramaturg Lukas Bärfuss. Man habe kein Werkzeug entwickelt, um mit dieser Freiheit umzugehen, hält der deutsche Schriftsteller Tobias Hülswitt fest. Er schlägt damit in eine ähnliche Kerbe wie jene Denker, die den Glauben als ein "metaphysisches Grundbedürfnis" des Menschen sehen, eine anthropologische Konstante mit transzendentem Kern. Weil ihnen offensichtlich irgendetwas abgeht, das ihnen Sinn und Halt gibt, streben Menschen nach einer wie auch immer gearteten Spiritualität, errichten sich profane Kirchen.

Ein gutes, wenn auch extremes Beispiel dafür liefert China. Dort habe die Kommunistische Partei die identitätsstiftenden Traditionen der Bevölkerung mit der sogenannten Kulturrevolution in den Sechzigerjahren systematisch zerstört, hält der im britischen Exil lebende Geschäftsmann Desmond Shum gegenüber dem Wirtschaftsmagazin "Brand eins" fest. Im Zuge dessen entstand ein spirituelles und kulturelles Va­kuum, das nach der wirtschaftlichen Öffnung schließlich von Prada, Gucci und Dior gefüllt wurde. "Chinesen greifen auf die Geschichten von Marken zurück, um Identität und Glauben zu finden", sagt Shum. Ironischerweise machte also erst die Herrschaft der Kommunisten den chinesischen Markt zum "fruchtbarsten Boden für Luxusmarken".

Riesige Louis Vuitton-Handtasche in Schanghai: Ausgerechnet im kommunistischen China füllen Luxusmarken ein spirituelles Vakuum.
Riesige Louis Vuitton-Handtasche in Schanghai: Ausgerechnet im kommunistischen China füllen Luxusmarken ein spirituelles Vakuum.
IMAGO

Wellness, Selfness, Mindfulness: Auch der Spiritualitätsmarkt bedient das postulierte metaphysische Bedürfnis mit Freuden. Es entstand eine, neben der Seelen-, Engel- und Wunderkultur für kleine Leute, "hochprozentige Wellnessindustrie, um den besser gebildeten und besserverdienenden Schichten das Gefühl eines Bedeutungsgewinns für das eigene Leben zu vermitteln", wie der österreichische Philosoph Peter Strasser beobachtet. Dabei werde auch an Naturkräfte appelliert, die sich, wie die Wirkfunktion der Homöopathie, seriöser Nachprüfung entziehen.

Die Frage nach dem Sinn

Ob das neueste iPhone oder der Achtsamkeits-Workshop im balinesischen Fünf-Sterne-Resort: Sinn und Spiritualität muss man sich in der postmodernen Gesellschaft leisten können. Das könnte man daraus schließen: Wer Sinn sucht, muss Geld ausgeben. Das soll der Sinn sein? – Eine Steilvorlage für die Konsumkritik. Dort spricht man gerne von Konsumismus als Ersatzreligion. "Die große Kraft aller Religionen der Welt besteht nicht darin, dass sie die absolute Wahrheit kennen, sondern darin, dass sie eine Gruppendynamik erzeugen, ein Zugehörigkeitsgefühl", schreibt die Nachhaltigkeitsberaterin Nunu Kaller.

Wellness, Selfness, Mindfulness: Auch der Spiritualitätsmarkt bedient das postulierte metaphysische Bedürfnis mit Freuden.
Wellness, Selfness, Mindfulness: Auch der Spiritualitätsmarkt bedient das postulierte metaphysische Bedürfnis mit Freuden.
APA/AFP/EVARISTO SA

Tatsächlich sei Konsumismus und dieses Dazugehören zu jenen, die sich bestimmte Produkte leisten können, nichts anderes als eine Art identitäts- und gemeinschaftsstiftende Religion: "Ich bin, was ich kaufe." Darüber hinaus werden Produkte in Warenästhetik und Werbung so inszeniert, dass auch ganz alltägliche Handlungen bewusster erlebt oder regelrecht ritualisiert werden. Mit jedem Produkt wird damit auch ein bestimmtes Weltgefühl erzeugt oder zumindest unterstützt. Vom Tanz ums Goldene Kalb ist bei Konsumkritikern gerne die Rede, man spricht in Zusammenhang mit Marken von Kult und Mythos, Produkte werden als Fetische oder Götzen bezeichnet. Das lässt sich auch auf andere Bereiche ausweiten: Veganismus, Fußball ... Jedenfalls bedient sich die Konsumkritik, die im Kern Kapitalismuskritik ist, jener Begriffe, die monotheistische Religionen von jeher gegen polytheistische einsetzen. Welch Ironie!

Wenn man schon beim Religionsbegriff bleiben möchte, dann könnte man auf eine funktionale Definition zurückgreifen, wie sie der evangelische Pfarrer Hendrik Meyer-Magister anbietet: Egal was meinem Leben Sinn gibt, was mir hilft, die Welt zu deuten, kann eine religiöse Funktion haben. Das wollen wir mal glauben. (RONDO Exklusiv, Markus Böhm, 31.3.2024)