Wir erreichen Flip Dejaeghere im wohlverdienten Urlaub in den französischen Alpen, dort sei er gerade zum Skifahren, wie er betont. Tatsächlich nur zum Skifahren, Flip? Dejaeghere muss lachen. "Na ja, der Mensch muss natürlich auch essen", antwortet er. "Gestern Abend war ich in Annecy im Dreisterner Clos des Sens bei meinen Freunden Franck Derouet. Und jetzt muss ich mich schon ein wenig sputen, weil ich einen Tisch bei Jean Sulpice im Zweisterner L’Auberge du Père Bise habe."

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Flip Dejaeghere mit dem Sternekoch José Avillez.
Privat

Dejaeghere, im Hauptberuf Gründer und Betreiber einer erfolgreichen Buchhaltungskanzlei in Belgien, zählt sich selbst zu den "Über-Foodies". Darunter versteht man eine Gruppe Menschen, die keine größere Leidenschaft kennen als das Essen in gehobenen Restaurants – und dieser mit beeindruckender Konsequenz nachgehen. Kein Lokal dieser Welt ist ihnen zu abgelegen, keine Destination zu exotisch, keine Anreise zu mühsam für ihre kulinarischen Pilgerreisen.

Bei Tisch können sie mehrmals täglich viele Stunden am Stück verbringen, dabei mit leuchtenden Augen die Gerichte begutachten, sie mit Andacht kosten und mit Verve kommentieren, nachdem sie geduldig und ehrfürchtig die ausschweifenden Erklärungen des Service-Personals über sich haben ergehen lassen. Sie interessieren sich tatsächlich für die Entstehung des Sauerteigs oder für das Terroir der weißen Rübe. Sie haben keinerlei Problem mit Menüs aus 20 oder mehr Gängen, nicht mit Preisen von über 300 Euro und auch nicht mit der unüberschaubaren Fülle an dazu gereichten Weinen. Und sie zeigen sogar Verständnis für das häufig überbordende, bisweilen auch überzogene Ego so mancher Küchenchefs.

Wie viele es von solch begeisterten Reisenden in Sachen Fine Dining genau gibt, kann auch Dejaeghere nicht sagen. "Aber auf Facebook haben wir eine geschlossene Gruppe mit circa 350 Mitgliedern, wo wir Informationen und Tipps austauschen", sagt er. Der 53-Jährige ist also nicht der Einzige, gleichwohl aber der bekannteste, fanatischste und mit Sicherheit auch einer der beliebtesten unter ihnen.

Wer ihn kennt, freut sich, wenn der ständig freundlich lächelnde Belgier irgendwo am Nebentisch sitzt oder bei irgendeinem Event oder einer Restaurantbewertungsgala plötzlich Arm in Arm mit den größten Stars der Branche auftaucht. Denn in ihre Herzen geschlossen haben ihn viele. Er ist der gern gesehene Gast aus Flandern mit dem gewinnenden Wesen und der gutgefüllten Brieftasche.

Respektiert wird er außerdem. Nämlich für seine Kompromisslosigkeit gleichermaßen wie für seine Kompetenz. "Flip ist einer der meistgereisten und leidenschaftlichsten Gourmets, die ich kenne", sagt zum Beispiel Ana Roš, die slowenische Spitzenköchin und Betreiberin des Dreisternerestaurants Hiša Franko. "Über die Jahre hat er in Sachen kreativer Küche Erfahrungen gesammelt wie kaum jemand. Zudem hat er einen einzigartigen Überblick, auf was sich in der Branche weltweit gerade so tut. Das zusammengenommen macht ihn zu einem der kompetentesten Gäste, die man sich wünschen kann."

Eine neue Welt

"Alles begann, als ich 18 Jahre alt war", erzählt Dejaeghere: "Der Vater meiner damaligen Freundin, die heute meine Frau ist, nahm mich mit in mein erstes Sternerestaurant. Ich dachte, er wollte über seine Tochter reden, aber er wollte nur mit mir essen." Für den jungen Flip eröffnete sich eine völlig neue, faszinierende Welt, die ihn nicht mehr loslassen sollte. Gemeinsam mit seinem späteren Schwiegervater besuchte er innerhalb eines Jahres alle Sternerestaurants Belgiens. Und als diese abgegrast waren, setzte er sich in den Schnellzug nach Paris. Dann ins Flugzeug nach Kopenhagen und so fort. Plötzlich habe das Ganze eine eigene Dynamik bekommen, erzählt er.

Geld verdiene er keines mit seinem Hobby, betont Dejaeghere. "Aber es kommt natürlich vor, dass ich auf das Essen eingeladen werde und die Einladung annehme. Dann sind da aber immer noch die Kosten für die Reise und Übernachtung", sagt er. Und allein die summieren sich naturgemäß, wenn man bedenkt, dass er jedes Jahr zwischen 250 und 300 Restaurants der gehobenen Kategorie besucht und dafür mehrere zigtausend Euro ausgibt.

Und was genau ist es, das ihn an Restaurants so fasziniert? "Für mich ist gutes Essen wie ein Museumsbesuch", antwortet er. "Mit dem Unterschied, dass es ein viel plastischeres Erlebnis ist. Man kann die Kunstwerke berühren, riechen, essen. Darum werde ich es auch niemals leid, die Restaurants zu besuchen, weil es bei jedem Mal und immer wieder eine neue, sinnliche Erfahrung ist."

Auf Reisen geht er in der Regel ohne Begleitung. Zwar gehe seine Frau auch gerne gut essen, würde aber den Druck und den Rhythmus nicht aushalten. So habe man einen Deal geschlossen, der ihm erlaube, 100 Tage im Jahr ohne sie zu verreisen. "Letztes Jahr waren es jedoch 120, deswegen muss ich heuer auf 80 reduzieren", sagt Dejaeghere und wirkt dabei etwas ratlos und nachdenklich.

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Flip Dejaeghere mit den Sterneköchen Tim Raue und Andreas Caminada
Privat

Reise-Guides

Erstes Auswahlkriterium sei für ihn immer noch der Guide Michelin, wie er betont. Der sei nämlich das mit Abstand seriöseste unter den Bewertungsmedien. "An jenen Orten, wo es keinen Michelin gibt, bediene ich mich gezwungenermaßen anderer Tools, wie etwa der Liste der 50 Best Restaurants. Aber die listet ja vor allem jene Lokale, die sich aufwendiges Marketing leisten können – und ist somit deutlich weniger aussagekräftig".

Umso mehr freue es ihn, dass der einflussreiche Michelin ab dem kommenden Jahr auch wieder in Österreich erscheinen wird, verfüge das Land doch auch außerhalb Wiens über eine Fülle von talentierten Köchen, die nun ins Rampenlicht gerückt würden, glaubt Dejaeghere. "Zum Beispiel bin ich überzeugt, dass Julian Stieger vom Rote Wand Chef’s Table in Zug und Thomas Dorfer im Landhaus Bacher in Mautern beide mindestens zwei Sterne verdienen und erhalten werden".

Und was war das abgelegenste Restaurant, das er in letzter Zeit besucht hat? Kurz denkt er nach. "Also das Iris in Norwegen, das im Vorjahr eröffnet hat, war ein ziemlich arger Trip", sagt er. "Es liegt in einer atemberaubenden Landschaft, in einem schwimmenden Gebäude, mitten in einem Fjord. Wenn das Wetter schlecht ist, muss man auf besseres warten, um hinzugelangen. Aber das Erlebnis zahlt sich aus."

Bleibt noch die Frage, wie er es mit einfacher Küche hält. Sucht er nicht gelegentlich auch eine Pizzeria oder eine stinknormale "Frituur" auf, wie man die in Belgien allgegenwärtigen Frittierstandln nennt? Holt er sich dort ein Stanitzel mit Pommes und der in seiner Heimat so beliebten "Sauce Samurai" aus Ketchup, Mayo und Chili? "Nein", antwortet der Über-Foodie, "das kommt so gut wie nie vor." Aber nicht etwa, weil er dafür zu versnobt sei, sondern aus reinem Zeitmangel. Jede freie Minute widme er der Familie oder dem Beruf. (RONDO, Georges Desrues, 1.4.2024)