Gerade ist der letzte Skandal verebbt – da muss sich die ungarische Regierung schon wieder neuen Vorwürfen stellen. Nach der Affäre rund um die Begnadigung eines Vizeheimleiters, der Kindesmissbrauch gedeckt haben soll, geht es nun erneut um Machtmissbrauch in der Justiz. Und auch Teile des Personals sind ähnlich: Wieder steht die mittlerweile zurückgetretene Justizministerin Judit Varga im Zentrum der Geschichte, auch wenn sich die Vorwürfe nicht unmittelbar gegen sie richten. Sie tritt vielmehr als eine Art unfreiwillige Anklägerin auf. Denn ihre Stimme ist es, die Vorwürfe des Eingriffs in das ungarische Justizsystem erhebt – auf einem Audiomitschnitt, den ihr früherer Ehemann Péter Magyar im Jänner 2023, vor der Scheidung, ohne ihr Wissen erstellt und am Dienstag veröffentlicht hat.

Das Tape, das Ungarns Regierung in Erklärungnot bringt.
Magyar Péter Hivatalos

Auf der Aufnahme ist zu hören, wie sich die beiden über einen seit 2022 laufenden Fall unterhalten. In dessen Kern geht es um Bestechung. Dem früheren Staatssekretär Pál Völner wird vorgeworfen, in seiner Amtszeit Schmiergelder vom Chef der ungarischen Kammer der Gerichtsvollzieher, György Schadl, angenommen und dafür verschiedene Angelegenheiten in seinem Sinne erledigt zu haben. In der Aufnahme ist zu hören, wie Magyar seine Frau etwas ungelenk zu den Vorgängen befragt.

Vargas Antworten lassen erkennen, dass es im System Orbán nicht zwingend um die reine Aufklärung der Vorwürfe geht. Orbáns enger Vertrauter und Kabinettschef Antal Rogán habe Teile aus der Anklage streichen lassen, lässt Varga erkennen. Wieso man Schadl, immerhin "ein Mann Rogáns und von Kanzleiminister Gergely Gulyás", nicht gerettet habe, fragt Magyar. "Sie hatten keine Möglichkeiten", lautet die Antwort. Warum? Weil die Presse schon von der Sache erfahren habe, deutet Varga an.

Geplante Parteigründung

Es ist also keine durchgehend erfolgreiche Intervention, die sich aus der Aufnahme ableiten lässt, aber doch ein Eingriff in die Arbeit der Justiz und, was wohl noch schwerer wiegt, ein unschönes Bild dessen, wie die Regierung Orbán die unabhängige Arbeit der Gerichte sieht. Und es ist auch ein mögliches Karrieresprungbrett. Magyar nämlich nutzt die Aufnahme, um für eine Protestbewegung zu mobilisieren, der er gerne vorstehen will. Zu einer Demonstration in Budapest, zu der er Dienstagabend gerufen hatte, kamen immerhin tausende Menschen. Für den 6. April hat er zu einer neuen Kundgebung gerufen. Und auch die Gründung einer neuen Partei, die mit der Korruption aufräumen soll, hat er in Aussicht gestellt.

Péter Magyar erhebt schwere Vorwürfe gegen das System Orbán – und will selbst eine Partei gründen.
AP/Denes Erdos

Die Auftritte des 43-Jährigen geben dabei jedenfalls auch eine persönliche Wandlung wieder: Jahrelang hatten er und Varga als konservatives Vorzeigeehepaar gegolten, gemeinsam hatten sie jahrelang bei der EU in Brüssel für das System Orbán gearbeitet, und auch in Ungarn war der Jurist und Spross einer bekannten konservativen Politikerfamilie als Mitstreiter der Orbán-Regierung bekannt.

Magyar selbst beschreibt die Proteste rund um den Begnadigungsskandal als seinen Damaskus-Moment. Hier habe er erkannt, dass die Orbán-Regierung heuchlerisch agiere und dass es ihr nicht um Werte gehe. Und dass sie sich, wie er sagt, "hinter dem Röcken von Frauen verstecke". Damit meint er, dass damals zwar Staatspräsidentin Katalin Novák (die die Begnadigung unterschrieben hatte) und Justizministerin Varga (die sie gegengezeichnet hatte) zurücktreten mussten, dass der Skandal aber für das sonstige System keine Folgen gehabt habe.

Missbrauchsvorwüfe

Rückendeckung seiner Ex-Frau, die er mit den Äußerungen zu verteidigen vorgibt, hat er dabei allerdings nicht. Varga stellt zwar die Authentizität der Aufnahme nicht infrage, beschreibt Magyar in einem langen Posting auf Facebook aber als verbal und körperlich übergriffigen Ehemann, der sich nun für die Scheidung 2023 rächen wolle. Wenn man als Ehefrau damit konfrontiert sei, sage man auch Dinge, die das Gegenüber hören wolle, meint sie.

Magyar habe sie bereits seit Monaten mit der Aufnahme zu erpressen versucht, schreibt Varga. Wieso er damals, angeblich im Jänner 2023, die Aufnahme angefertigt habe, könne Magyar anders auch nicht hinreichend erklären, argumentiert sie: "Péter Magyar hat eine geheime Aufnahme seiner Partnerin, also von mir, in unserem gemeinsam Heim angefertigt, um selbst seine politischen Ziele erreichen zu können. Er ist nicht vertrauenswürdig."

Welche Folgen der Skandal tatsächlich haben wird, gilt als unsicher. In einer Umfrage sagen 13 Prozent jener Menschen in Ungarn, die bereits von Magyar gehört hatten, dass sie ihm bei kommenden Wahlen ihre Stimme geben würden. Die Regierung hingegen vergleicht ihn mit Péter Márki-Zay, der bei der Wahl 2022 ohne Erfolg ein Bündnis der Oppositionsparteien angeführt hatte. "Viel Lärm um nichts", teilte Regierungssprecher Zoltán Kovács der Agentur Reuters als einzige Antwort auf eine Anfrage mit.

Das Portal "Politico" zitiert einen "Insider" der Regierungspartei Fidesz mit der Aussage, es werde sich um eine "Dreitagesangelegenheit" handeln. Man könne Anklagepapiere in Ungarn nicht manipulieren, heißt es wiederum an anderer Stelle von der Regierung – es würden Kopien an mehreren möglichen Orten zugleich aufbewahrt. Die Ermittlungsbehörden selbst haben Magyar jedenfalls zu weiteren Aussagen vorgeladen. Sie wollen sich am Donnerstag zur Sache äußern. (Manuel Escher, 27.3.2024)