Gott stellen sich die meisten Menschen als ein Wesen vor, das alles weiß. Also wird Gott auch Meinungsumfragen lesen und feststellen: Im christlichen Sinn glauben nur noch relativ wenige Menschen an ihn. In den meisten Kulturen ist Gott ein Mann, das ist längst als ein Vorurteil durchschaut, hält sich aber hartnäckig, wenn auch das Klischee mit den weißen Haaren und dem Bart allmählich verblasst. Immerhin 45 Prozent der Bevölkerung in Österreich glauben, dass es "ein höheres Wesen oder eine geistige Macht" gibt – das hat DER STANDARD Ende des vergangenen Jahres erheben lassen. 23 Prozent glauben nicht, dass es – man achte auf die Begriffskette – "einen Gott, ein höheres Wesen oder eine geistige Macht" gibt. Die 23 Prozent stehen also gegen die 45 Prozent und weitere 16 Prozent, die an der katholischen Lehre festhalten, dass Gott sich in Jesus Christus geoffenbart hat. Bleiben 16 Prozent, die den Satz unterschreiben: "Ich weiß nicht so richtig, was ich glauben soll." Historisch und religionshistorisch ist das nachvollziehbar, denn es gibt ein riesiges Angebot an Glaubensinhalten. Man kann sich bedienen.

Kirschblüten
Spiritualität enthält eine echte Alternative zum Glauben.
IMAGO/Panthermedia

Religion ist im Schwinden begriffen. Aber sind die Menschen deswegen weniger religiös? Das ist keineswegs gesagt. Vor einigen Jahren berichtete DER STANDARD darüber, dass 72 Prozent der Menschen im Land an (gutes) Karma glauben, aber nur 32 an einen allmächtigen Gott. In der Schlagzeile wurde das so zugespitzt: "In Österreich glauben mehr Menschen an Esoterik als an Gott."

Esoterik ist ein Wort, bei dem man an Yoga-Kurse, an Schweige-Retreats oder an Nacktwandern denken kann. Aber auch an Zen. Im Grunde ein leeres Wort, das vor allem alles enthält, was nicht offizielle Lehre der Großreligionen ist. Wer bei Esoterik zu sehr an Brimborium denkt, kann auf ein anderes Wort ausweichen: Spiritualität. Und hier wird die Sache interessant. Denn Spiritualität enthält eine echte Alternative zum Glauben. Glauben ist stark an Inhalte gebunden.

Zu Ostern zum Beispiel der christliche Zentralinhalt: Jesus ist von den Toten auferstanden und seiner Gemeinde erschienen, und zwar leiblich. Ein Evangelium beschreibt sogar genau, was er als Auferstandener gegessen hat. Heute ist so etwas Inhalt, Dogma, abfragbar, und damit das Gegenteil von Spiritualität. Kein Wunder, dass viele Menschen sich als nachreligiös, aber als spirituell verstehen. Denn dass die Wirklichkeit groß und mysteriös ist, dass das Leben sich in unseren alltäglichen Vollzügen offensichtlich nicht erschöpft, das würden wahrscheinlich die meisten Menschen unterschreiben.

Eine neue Spiritualität

Der Philosoph Thomas Metzinger setzt an diesem Punkt mit einem Vorschlag an, der an Radikalität nicht so leicht zu überbieten ist. Er schlägt tatsächlich eine neue Spiritualität vor, die aber deutlich weiter geht als ein vages Gefühl von Transzendenz, also von einer Annahme, dass noch etwas hinter den Dingen liegen könnte. Metzinger ist ein Spezialist für das Bewusstsein. Im Fächerkanon der Philosophie fällt das in die Erkenntnistheorie, unter die Frage: Wie begreifen wir die Welt? Was wissen wir über uns selbst? Können wir uns etwas über unsere Beziehung zu den Gegenständen klarmachen? Den meisten Menschen ist der Grundsatz von Descartes schon einmal untergekommen: Ich denke, also bin ich. Cogito ergo sum. Allein über dieses "also" sind viele Bücher geschrieben worden. Aber es gibt eine alltägliche Erfahrung, die ihr entspricht: Wenn wir morgens aufstehen, dann erleben wir uns als die Person, die am Vortag schlafen gegangen ist. Wir finden wieder zu uns und verbringen den Tag dann in unterschiedlichen Graden von Bewusstheit. Mal denken wir mehr darüber nach, was wir gerade tun, mal läuft alles "automatisch". Von glücklichen Naturen sagt man, dass sie nicht zu viel nachdenken. Wer viel grübelt, neigt auch eher zu Melancholie.

Metzinger lädt ein, genauer darüber nachzudenken, was es mit dem Bewusstsein im Alltag auf sich hat. Er arbeitet daran, eine Bewusstseinskultur zu schaffen, also eine Aufmerksamkeit dafür, in welchem Zustand wir uns jeweils befinden, wenn wir etwas tun, in welchem Maß wir dabei auch wissen, was wir tun, und wie wir uns befinden.

Ein aktuelles Beispiel wäre der Umgang mit der App Tiktok. Es wird vielfach beschrieben, dass sie sehr intensiv genutzt wird. Und es gibt massive Anzeichen dafür, dass die Art und Weise, wie die Plattform ihre Inhalte organisiert, einen spezifischen Bewusstseinszustand erzeugt. Bei Metzinger ist dann von der "technischen Konstruktion phänomenaler Zustände" die Rede.

Bestimmte Bewusstseinszustände

Das ist Fachsprache, bedarf aber nicht groß einer Übersetzung: Auf Tiktok ist der Algorithmus so beschaffen, dass er in einem hohen Maß für Bindung sorgt. Das gute alte Scrollen, mit dem wir uns lange durch das Internet bewegt haben, wurde durch eine Bewegung ersetzt, in der Weiterwischen und generell ein Swipe-Modus (ja/nein, rein/raus, Auftritt/Abtritt in starker Beschleunigung) für Struktur sorgen. Eine technische, kommerzielle Infrastruktur schafft ihren eigenen Bewusstseinszustand – der im Übrigen natürlich noch genauer beschrieben werden müsste.

Anders, aber strukturell ähnlich verhält es sich mit Drogen. Metzinger hat selbst die relevanten ausprobiert. LSD, Ayahuasca, psychotrope Substanzen. Er ließ sich dabei von sogenannten "Tripsittern" begleiten und hatte vor allem ein wissenschaftliches Interesse. Aber schon die Hippies wussten, dass Drogen das Bewusstsein erweitern. Und nicht selten wurde diese Erweiterung mit Aspekten der Religion verknüpft. So gelten zum Beispiel die Mysterien von Eleusis, ein berühmtes Ritual im klassischen Griechenland, heute gern einmal als "Drogenfest".

Für Metzinger sind Drogen einfach eine weitere Möglichkeit, uns erstens in bestimmte Bewusstseinszustände zu versetzen und uns zweitens darüber klarzuwerden, dass wir das Bewusstsein nicht für selbstverständlich nehmen sollten. Wir sollten eine Kultur entwickeln, die darauf umfassend achtet. Und die sich zugleich von Bewusstseinserfahrungen leiten lässt.

Die wichtigste dieser Erfahrungen ist die Meditation. Metzinger praktiziert sie seit vielen Jahren. Und nun hat er ein Riesenwerk herausgebracht, in dem er Berichte von anderen Menschen versammelt hat, die versucht haben, von ihren Erfahrungen mit Meditation zu berichten. Das ist ein paradoxes Unterfangen, denn Sprache lassen sie dabei eigentlich hinter sich, wie auch alles andere, was normalerweise unser Denken und Erleben ausmacht. Dabei steht nämlich in der Regel unser Ich im Mittelpunkt. Wir beziehen alles auf uns, wenn wir etwas Besonderes erleben, bereichert das unsere Persönlichkeit.

Religionskritische Parabel

Wir leben in der ersten Person. Und in der Meditation verschwindet diese Person. Metzinger hat darüber auch schon ein Buch geschrieben, es heißt Being No One. Wenn man das geläufig mit Niemand sein übersetzt, gehen einige implizite Pointen aus dem Englischen verloren: Denn das Sein des (nicht) Einen trifft mehr von dem Zustand, den Menschen seit vielen Jahrhunderten suchten, wenn sie in der Meditation von sich wegdachten. Hin auf ein reines, leeres, umfassendes Bewusstsein, in dem das Ich keine Rolle mehr spielt. "Ein Gefühl heller Leichtigkeit, grenzenlos verbunden mit dem Universum, reine Präsenz ohne das Erleben eines Selbst", heißt es an einer Stelle des Buches Der Elefant und die Blinden.

Buchcover Metzinger
Thomas Metzinger, "Der Elefant und die Blinden. Auf dem Weg zu einer Kultur der Bewusstheit". € 49,40 / 960 Seiten. Berlin-Verlag, 2023
Berlin-Verlag

Der Titel bezieht sich auf die berühmte religionskritische Parabel von Menschen, die einen Elefanten zu ertasten versuchen und dabei immer nur Körperteile erwischen, die sie mit dem Ganzen verwechseln. So ähnlich bewegen wir uns mit unserem Bewusstsein durch die Welt, während in der Meditation ein Bewusstsein vom Bewusstsein selbst erreichbar wird (in dem allerdings auch die Welt, die Lebensumgebung, selbst die engsten Beziehungen verschwinden).

Metzinger schreibt von einer "nicht-egoischen" Erfahrung, einer Erfahrung jenseits des Ichs und des Egoismus sowieso. Eine Erfahrung, die auch über alles hinausgeht, was wir bisher mit Aufklärung in Verbindung brachten. Denn diese setzte ja vor allem auf Vernunft, also auf die Ausbildung intellektueller Kompetenzen, die es ermöglichen sollten, sich aus Abhängigkeiten und Illusionen zu befreien. Die Aufklärung hatte dabei immer ein Individuum im Blick, das in die Lage versetzt werden sollte, bewusst Ich zu sagen – von Kants Freiheit bis zum kommunikativen Handeln von Habermas braucht es Subjekte, die sich zu erkennen geben und Verantwortung (auch für sich selbst) übernehmen. Die Kultur der sozialen Medien hat die Möglichkeiten, heute mit Nachdruck "ich" zu sagen, ins Extreme potenziert. Zugleich ist das aber ein enteignetes Ich, das sich in Strukturen bewegt, in denen man leicht die Würde verliert. Und die Autonomie, ein Schlüsselbegriff der Aufklärung, sowieso.

Würde und Autonomie

Würde und Autonomie stehen bei Metzinger im Zentrum dessen, was er vor einem Jahr in einem schmalen Buch mit dem Titel Bewusstseinskultur entwickelt hat. Mit Der Elefant und die Blinden will er Grundlagen schaffen für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der Meditation. Auf tausend Seiten entfaltet er ein Panorama von Erfahrungen, die über die geläufige Auffassung von Erfahrung weit hinausgehen. Auf den knapp zweihundert Seiten von Bewusstseinskultur aber verortet er seine Vorschläge in der aktuellen Situation.

Er beschreibt diese umso schonungsloser, als er auch in dieser Hinsicht die Gegensätze hinter sich lassen möchte, die in der Regel die Debatten bestimmen: Kann man angesichts der planetaren Krise noch zwischen Optimismus und Pessimismus abwägen? Metzinger hält das für belanglos, denn er rechnet ziemlich deutlich mit einem "Scheitern" der Menschheit. Er sieht sich und uns dadurch aber keineswegs zum Nihilismus ermächtigt (und dazu, zynisch die Emissionsprivilegien des reichen Westens auch weiterhin nach Kräften auszunützen). Ihm ist auch und gerade in dieser Situation wichtig, "das Richtige zu tun". Er koppelt dieses Bestreben allerdings ab von Selbstwirksamkeit. Viele Menschen wollen zumindest ein gutes Gefühl bekommen, wenn sie vegan essen oder auf Flüge verzichten. Sie haben das Bedürfnis, etwas zu bewirken, auch wenn klar ist, dass die großen Prozesse der Erderwärmung mit individuellem Handeln auch zu tun haben, dass man das Klima aber nicht gesundfasten kann.

Buchcover Metzinger
Thomas Metzinger, "Bewusstseinskultur. Spiritualität, intellektuelle Redlichkeit und die planetare Krise". € 22,70 / 208 Seiten. Berlin-Verlag 2023
Berlin-Verlag

Dass die Menschheit mit ihrem Wachstumsparadigma nicht weitermachen kann, ist bei Metzinger klar. Überraschend aber ist sein Vorschlag, wie man die notwendigen Einschränkungen gutmachen kann: Er möchte neben den bisherigen Konzepten von LebensStandard auch einen "phänomenologischen LebensStandard" etablieren. Phänomene sind in diesem Verständnis jene Erfahrungen, die man in der Abkehr vom Ich-Bewusstsein macht. Man bekommt schon bei der Lektüre von Metzingers Büchern, also auch ohne noch selbst meditiert zu haben, einen starken Eindruck davon, was in diesen Dimensionen des Bewusstseins alles steckt – was auf den ersten Blick wie ein Verzicht wirkt, enthält eine alles verändernde Bereicherung. Das "gewöhnliche Wachbewusstsein" erscheint im Vergleich provinziell.

Selten liest man so deutlich, dass die Menschheit sich im Moment im Grunde in die Tasche lügt. Die Transformation, die die Erderwärmung begrenzen soll, läuft für Metzinger auf einen langen historischen "Flaschenhals" hinaus, an dessen anderem Ende er eher einen Planeten ohne Menschen zu vermuten scheint, aber durchaus mit empfindungsfähigen Wesen, seien das mutierte Tiere oder lebendig gewordene KI. Er macht keine Voraussagen, aber er rechnet offenkundig nicht damit, dass die gegenwärtigen Bemühungen in reichen Ländern wie Österreich oder Deutschland etwas Substanzielles bewirken können.

Der Aspekt des Engagements ist denn auch ein springender Punkt in der Auseinandersetzung mit seinen Vorschlägen. Mit seiner Betonung der Würde und der intellektuellen Redlichkeit erinnert er an klassische Positionen der Philosophie in der Tradition der antiken Stoa. Dass es vielleicht besser ist, "in Anmut zu scheitern", wenn rundherum Kipppunkte und bald auch "Panikpunkte" erreicht werden, könnte leicht als Eskapismus abgetan werden. Dagegen setzt Metzinger allerdings auf ein spannendes Bündnis von Wissenschaft und Spiritualität.

Auferstehung und Abschied

Diese beiden Bereiche sind bei ihm eher verschwistert als gegensätzlich. Spiritualität begreift er als Erkenntnis. Man könnte den Brückenschlag auch so zuspitzen: Er meditiert methodisch auf einen Punkt hin, an dem er mit sich selbst nichts mehr zu tun hat, wohl aber mit einem Bewusstsein, das größer ist als er selbst. Er rettet also die Spiritualität vor der Religion, die er in den meisten heute bekannten Formen eindeutig als Wahnsysteme abtut. Also als bequeme Bewusstseinsformen, die sich um Erkenntnis gerade herumdrücken.

In seiner Bewusstseinskultur werden dann allerdings auch wieder Verständnisformen für alte Dogmen möglich, an denen deutlich wird, dass die Religionen eben auch immer schon mehr waren als die verfestigten Organisationen, als die sie meist auftreten. Dass Menschen an Auferstehung glauben und Priester ihnen eine solche versprechen, hat mit Verdrängung der Sterblichkeit zu tun – Metzinger sieht das Meditieren durchaus auch als Einübung in einen Abschied vom Selbst an, dem auch die eigene Sterblichkeit keine Sorge mehr sein muss.

Gleichzeitig lassen sich aber Verständnisse von Auferstehung zumindest ahnen, die eher darauf beruhen würden, dass individuelles und umfassendes Bewusstsein ineinander übergehen können. Unser Bewusstsein ist ziemlich sicher an die anatomische Substanz gebunden, die wir als Gehirn im Kopf und im ganzen Leib tragen. Zugleich ist dieses zugleich begrenzte und umfassende Bewusstsein offenkundig in der Lage, weit über sich selbst hinauszugehen.

Übermächtige Geräte

Eine Bewusstseinskultur nach Metzinger würde solchen Möglichkeiten von Beginn des menschlichen Lebens an Rechnung tragen. Schon in der Schule sollte es viel stärker darum gehen, das Bewusstsein als solches zu entwickeln und nicht bloß spezifische Kompetenzen. Dass man gerade die jungen Menschen mit den übermächtigen Geräten nicht einfach allein lassen darf, versteht sich von selbst.

Der Begriff einer "zweiten Aufklärung" ist für das, was Metzinger skizziert, nicht übertrieben. Sein Bündnis zwischen den Rechenpotenzialen der KI und den Entgrenzungen der Gehirntätigkeit in der Meditation ist auch eine Kehrseite der Überschreitungen des Menschlichen in den Tech-Utopien der Transhumanisten und Ewigkeitsspekulanten im Silicon Valley. Obwohl Metzinger scheinbar den Menschen ihr Innerstes nimmt, das biografische Ich, das wir uns alle von uns selbst unterschiedlich glücklich zusammenreimen, ist sein Projekt doch im Kern humanistisch.

Allerdings mit Menschen, die erst noch begreifen müssen, dass sie mehr wissen können als jeder Gott. (Bert Rebhandl, 30.3.2024)