Die Meldungen klingen wie aus einem schlechten Spionageroman, seit 2016 beflügeln sie die Fantasie von Reporterinnen und Lesern, für die Betroffenen aber sind sie teils die Hölle auf Erden. Seitdem im Jahr 2016 Berichte über einen merkwürdige Häufung medizinischer Probleme in der US-Vertretung in Havanna öffentlich wurden, suchen Ermittler nach den Ursprüngen des sogenannten Havanna-Syndroms: plötzliche Schmerzanfälle im Bereich von Kopf und Ohren, die teils jahrelange Folgen nach sich ziehen und in vielen Fällen zur Arbeitsunfähigkeit geführt haben.

Mögliches Zielobjekt russischer Schallangriffe: Die US-Botschaft in Havanna.
REUTERS/Alexandre Meneghini

Bei insgesamt 1.500 Personen gehen die US-Geheimdienste Informationen nach, Fälle sollen auch in Wien aufgetreten sein. Ein vom Kongress eigens erlassenes Gesetz namens "Havana Act" soll Betroffenen Hilfe und Entschädigung zukommen lassen. Die Ursache der Anfälle gilt trotz der Ermittlungen bisher als unklar. Nun aber soll es nach einem Bericht des "Spiegel", des Magazins "Insider" und der US-TV-Sendung "60 Minutes" eine neue Spur geben. Sie führt nach Russland.

Mysteriöse Einheit 29155

Bei den Recherchen sind die Medien nämlich auf Mitglieder einer russischen Geheimdienst-Gruppe gestoßen, deren nachgewiesene Auslandsreisen sich in einigen Fällen auffällig mit dem Auftreten des sogenannten Havanna-Syndroms in viele Städten rund um die Welt überschneiden. Es handelt sich demnach um die sogenannte Einheit 29155 des russischen Militärgeheimdienstes GRU. Sie soll auf Einsätze im Ausland spezialisiert sein. Ihre Mitglieder gelten unter anderem als Verantwortliche für den Anschlag auf den früheren russischen Agenten Sergej Skripal und dessen Tochter im britischen Salisbury von 2018 und Angriffe auf Munitionslager in mehreren Staaten.

Die "60 Minutes"-Sendung zur Causa
60 Minutes

Anders als bisher angenommen gehen die Fälle, die von den Medien nun untersucht wurden, nicht nur bis zum Vorfall von Havanna 2016, sondern bis ins Jahr 2014 zurück. Damals betrafen sie US-Regierungsmitglieder, die im amerikanischen Konsulat in Frankfurt am Main tätig waren. Rund um die Daten sind Einreisen von namentlich bekannten GRU-Mitgliedern nach europäischen Flughäfen, darunter Wien und Mailand, nachgewiesen. In der Zeit danach sind ihre Ausreisen ebenfalls in Wien, aber auch in Amsterdam und Genf dokumentiert. Auch in anderen Fällen, etwa in Georgien, in China und in der Ukraine lassen sich entsprechende Daten finden.

Projekt Reduktor

Dass die Einheit 29155 etwas mit dem Fall zu tun haben könnte, schließen die neuen Medienberichte auch aus einem anderen Detail. In einem E-Mail, das ein russischer Antikorruptionsbeamter mit dem früheren Vizechef der Einheit, einem gewissen Iwan Terentjew, ausgetauscht habe, sei unter anderem von bestimmten Projekten die Rede, für die Terentjew Geld ausgegeben habe. Darunter findet sich der Name "Potenzielle Einsatzmöglichkeiten von nicht-tödlichen akustischen Waffen bei Kampfhandlungen in städtischen Gebieten". Solche Waffen halten US-Geheimdienste für mögliche Verursacher des "Havanna-Syndroms" – auch wenn ihre tatsächliche Existenz vorerst noch immer unbelegt ist.

Anti-Chemiewaffen-Truppen im Einsatz im britischen Salisbury
Nach der Arbeit von "Einheit 29155": Anti-Chemiewaffen-Truppen im Einsatz im britischen Salisbury.
AP/Frank Augstein

Dass vor allem im Kalten Krieg – nicht nur von der Sowjetunion – an solchen Waffen geforscht wurde, war aber schon bisher bekannt. Nun ist gemäß den Berichten ein konkretes Projekt aufgetaucht. Seit 1948 sei im ukrainischen Charkiw ein Programm namens "Reduktor" geführt worden, bei dem es unter anderem um die Nutzung "elektromagnetischer Strahlung zu Beeinflussung biologischer Objekte" gegangen sei, schreibt "The Insider". Mit dem Ende der Sowjetunion sei es nach Moskau verlegt worden.

Unklare medizinische Lage

Zur genauen technischen und auch medizinischen Funktionsweise eines solchen Gerätes gibt es allerdings weiterhin einige offene Fragen. Darüber hinaus haben mehrere medizinische Nachforschungen zuletzt Zweifel am "Havanna-Syndrom" genährt. Ein Vergleich von 86 Patienten mit ihren Familienangehörigen, bei dem etwa Hör-, Seh- und Gleichgewichtstests durchgeführt wurden, ergab keine auffälligen Unterschiede. Gleiches zeigte sich bei Magnetresonanztomografie-(MRT)-Untersuchungen von Betroffenen auf mögliche Hirnschäden. Auch gaben US-Geheimdienste zuletzt zu verstehen, dass sie nicht vom Einsatz von Energiewaffen durch einen äußeren Feind als Ursache ausgehen. Dem hält ein Betroffener Messungen an sich selbst entgegen, die ebenfalls "The Insider" zitiert: Demnach zeigten Tests an Biomarkern direkt nach dem Angriff deutliche Unterschiede zu einem zuvor vorgenommenen Test, die sich allerdings nach einigen Monaten wieder zurückentwickelt hätten.

Wieso die US-Behörden diesen Hinweisen nicht in gleicher Weise nachgehen wie das journalistische Projekt, das nun die neuen Erkenntnisse veröffentlicht hat, bleibt offen. Allerdings spricht man auch dort auf Nachfrage der Medien von noch "bestehenden Lücken" bei der Nachforschung. Bei "60 Minutes" sagt Opferanwalt Mark Zaid auch, er kenne interne Papiere, die auf größeres Wissen der Behörden schließen lassen als jene Informationen, die öffentlich gemacht worden seien. Insgesamt würden die Ermittlungen weiter "prioritär behandelt", heißt es laut einem zitierten Statement vom Weißen Haus. Der Kreml reagierte jedenfalls mit einer Zurückweisung auf die Meldungen: Es handle sich um haltlose Beschuldigungen, ließ Sprecher Dmitri Peskow wissen. (Manuel Escher, 1.4.2024)