Vor der Knesset in Jerusalem demonstrierten Zehntausende gegen die Regierung. Sie forderten unter anderem den Rücktritt von Premier Benjamin Netanjahu.
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Es waren nach zahlreichen Schätzungen die größten Proteste sei langem. Am Wochenende haben erstmals die Antiregierungsbewegung in Israel und die Vertreter der meisten Geiselfamilien gemeinsam demonstriert. Sie forderten bei Protestmärschen in Jerusalem und in Tel Aviv den Rücktritt des Premiers sowie Neuwahlen. Darüber hinaus machten sie auch für einen Deal zur Freilassung der noch in Geiselhaft der Hamas in Gaza befindlichen rund 130 Menschen Druck. Über eine solche Übereinkunft, die wohl mit einer Waffenruhe für den Gazastreifen einhergehen würde, wird seit Wochen in Kairo verhandelt. Bisher sind die Forderungen beider Seiten aber unvereinbar geblieben.

Ein Urteil sorgt für Unsicherheit

Die Familien der Geiseln hatten bisher die Regierung zwar deutlich kritisiert, Forderungen nach Rücktritt zum größeren Teil aber vermieden. Immerhin will man das Kabinett ja zum Handeln für einen Deal bringen. Allerdings machen sich viele zunehmend Sorgen, dass der immer wieder kommunizierte Fokus auf eine Offensive in der Stadt Rafah die noch lebenden Geiseln (ihre genaue Zahl ist unklar) erst recht gefährden könnte. An den Protesten nahmen auch mehrere Menschen teil, die selbst beim pogromartigen Terror der Hamas am 7. Oktober 2023 verschleppt worden waren und bei früheren Geiseldeals wieder freigekommen sind.

Die Polizei ging mit harschen Methoden gegen die Demonstrierenden vor.
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Die Polizei reagierte hart auf die Proteste. In Jerusalem wurde nach Angaben der BBC ein Wasserwerfer mit sogenanntem Skunk-Wasser eingesetzt. Das ist eine übelriechende Flüssigkeit, mit der Protestierende, die von der Nässe und Wasserkraft allein nicht abgeschreckt werden, zum Aufgeben gedrängt werden sollen. Nach Medienberichten soll die ungiftige Flüssigkeit nach verdorbenem Fleisch, alten Socken und Kanal riechen und sich über mehrere Tage nicht abwaschen lassen.

Für die Regierung ist es nicht das einzige plötzlich akute Problem. Nach einem Urteil des Höchstgerichts sind mit Anfang April seit Jahrzehnten gültige Ausnahmen für ultraorthodoxe Männer ausgelaufen, die diese bisher von der sonst flächendeckenden Wehrpflicht befreit hatten. Mehr als 60.000 Religionsstudenten, die bisher nicht eingezogen worden waren, sind damit vorerst von der Wehrpflicht betroffen.

Bei Demonstrationen in Jerusalem wurde auch die Einziehung bisher vom Militärdienst befreiter ultraorthodoxer Männer ins Militär gefordert.
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Die Regierung hatte allerdings angekündigt, ein neues Gesetz zu erlassen, das diese Lücke wieder schließt. Allerdings hat sich bisher keine Formulierung gefunden, die gleichermaßen die Zustimmung der gesamten konservativen Likud-Partei von Premier Benjamin Netanjahu als auch seiner teils nationalreligiösen, teils ultraorthodoxen, teils rechtsextremen Koalitionspartner gewonnen hätte.

Eskalationsangst im Norden

Zugleich heizt sich auch ein Konflikt weiter auf, der seit dem 7. Oktober immer wieder hochzukochen droht: jener im Norden des Landes, wo sich die israelische Armee IDF und die vom Iran unterstützte libanesische Schiitenmiliz Hisbollah immer wieder Scharmützel liefern, eine Eskalation bisher aber vermieden haben. Nun haben die IDF am Sonntag nach eigenen Angaben erneut einen hohen Hisbollah-Vertreter bei einem Luftangriff getötet. Die Hisbollah kündigte Vergeltung an.

Zudem sind bei einer Explosion nach einem Drohnenengriff drei Vertreter der UN-Mission Unifil verletzt worden, deren Aufgabe die Beobachtung der militärischen Trennung zwischen den beiden Parteien ist. Libanesische Medien machten Israel verantwortlich, der IDF wies das aber zurück. An der rund 10.000 Mann starken Unifil-Mission ist auch Österreich mit über hundert Blauhelmen beteiligt, die großteils Logistikarbeiten erledigen.

Die Lage an der Nordgrenze ist aus israelischer Sicht auf längere Sicht heikel. Tausende Menschen haben seit Beginn des beidseitigen regelmäßigen Beschusses ihre Häuser verlassen müssen und leben nach der Evakuierung vorübergehend in anderen Teilen Israels. Für den Fall, dass diese Menschen weiterhin nicht zurückkehren können, hat Israels Regierung stärkere militärische Maßnahmen gegen die Hisbollah angekündigt. Diese könnten zu einem großen Konflikt mit der militärisch stark ausgerüsteten Miliz führen. (Manuel Escher, 1.4.2024)