Kinder- und Jugendpsychiater Paul Plener im Außenbereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie des AKH Wien. Im Hintergrund ist ein Basketballkorb zu sehen, mit dem die stationär behandelten Patientinnen und Patienten draußen spielen können.
Paul Plener im Außenbereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie des AKH Wien. Pro Nacht kommen im Schnitt sieben Akutfälle, meist nach Selbstverletzungen oder Suizidversuchen. Stationär nimmt Drogenentzug zu.
Heribert Corn

Es waren grauenvolle Fälle, die zuletzt breites Entsetzen ausgelöst haben. Mit immer ähnlichen Eckdaten: sehr junge Mädchen in Hochrisikoszenarios, exzessiver Medikamenten- und Drogenkonsum, Alkohol fast immer sowieso dabei, sexuell missbraucht, eine Zwölfjährige in Favoriten über Monate von 17 Teenagern drangsaliert. Die schlimmsten Fälle endeten tödlich in den Wohnungen deutlich älterer Männer, oder sie wurden auf der Straße abgelegt.

Am Montag wurde zudem eine aktuelle Auswertung der Wiener Berufsrettung veröffentlicht, wonach die Blaulichtorganisation in den vergangenen fünf Jahren einen starken Anstieg der Einsätze wegen Drogen- oder Medikamentenmissbrauchs zu verzeichnen hatte – und zwar "kontinuierlich in allen Altersgruppen".

Paul Plener, der die Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Med-Uni Wien leitet, und seine Kolleginnen und Kollegen haben mit den jüngsten dieser Drogenopfer bis zu jenen in der Adoleszenz, also der Entwicklungsphase bis zum wirklichen Erwachsensein, die bis zum 24/25. Lebensjahr dauern kann, zu tun. Ein STANDARD-Interview auf der Suche nach möglichen Erklärungen für die sehr unterschiedlichen Notlagen von Jugendlichen.

STANDARD: Wie blickt der Kinder- und Jugendpsychiater auf die eingangs erwähnten, öffentlich breit diskutierten Fälle?

Plener: Wir kennen leider viele solcher Fälle. Von den publik gewordenen kannten wir einige aus kurzen ambulanten Kontakten. Wir sehen in den Nachtdiensten, dass das ein großes Problem geworden ist. Leider erleben wir auch Prostitution zur Drogenbeschaffung und in diesem Zusammenhang auch Vergewaltigungen.

STANDARD: Ist das mehr geworden?

Plener: Das sind zum Glück im Vergleich mit anderen Störungsbildern immer noch wenige Fälle, aber deutlich mehr als noch vor zwei Jahren. Wir sehen jetzt einen Drogenkonsum, wie ich ihn so aus meiner gesamten Karriere nicht kenne. Also 13-, 14-Jährige, nicht nur Einzelfälle, die Heroin konsumieren und vor allem Mischintoxikationen in großen Mengen einnehmen, durch die sie auch sterben. Wir haben auch auf der Station mehr Drogenentzug. Die sagen: "Ich schaffe es nicht alleine zu Hause. Könnt ihr auf mich aufpassen?" Und dann schauen wir, dass wir langsam runterkommen.

STANDARD: Was ist passiert? Welche Erklärungen gibt es dafür?

Plener: Wir haben zu Beginn der Covid-Pandemie, obwohl die jetzt gar nichts mehr erklärt, ein sehr einheitliches Bild gesehen: Zuwächse bei depressiver Symptomatik und Angststörungen, im Bereich von Suizidversuchen und auch Suiziden sowie Essstörungen. Weltweit. Den Anstieg gab es vor allem bei Jugendlichen und da besonders bei den Mädchen. In Österreich ist diese Gemengelage auf ein ohnehin schon desaströses Versorgungssystem mit extremen Lücken getroffen.

STANDARD: Was wäre da nötig?

Plener: Kassenfinanzierte Psychotherapie für jeden, der sie braucht. Außerdem haben wir einen massiven fachärztlichen Mangel in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Wir sollten 860 stationäre und teilstationäre Plätze haben, tatsächlich sind es nur 430. Wir sind komplett hintennach. Das heißt, wir müssen davon ausgehen, dass wir da draußen viele unbehandelte psychische Probleme haben, und das sind nun mal Risikofaktoren für Suchterkrankungen, aber auch Suizidversuche. Wir brauchen eine ganz klare Präventionsschiene, die im Schulbereich und in Ausbildungsbetrieben greift. Wir dürfen ja nicht die Lehrlinge vergessen. Da müssten Bildungs-, Arbeits- und Gesundheitsressort zusammenarbeiten.

STANDARD: Was sind denn so klassische prekäre Gefährdungslagen?

Plener: Aufwachsen in Armut ist Gift für die psychische Gesundheit. Ein relativ großer Risikofaktor sind auch erkrankte Elternteile, psychisch, physisch oder Sucht. Für psychisch gesundes Aufwachsen brauche ich mindestens eine stabile erwachsene Bezugsperson. Das müssen nicht die Eltern sein, das kann auch die Tante oder der Trainer sein. Es braucht Standfestigkeit und Zeit. Ich muss wissen, wofür ich stehe und was mir wichtig ist. Man sollte nicht vergessen, dass Erziehung halt auch Arbeit ist. Das ist nicht immer lustig. Ich habe das Gefühl, das ist vielen nicht bewusst.

STANDARD: Was raten Sie Eltern?

Plener: Wir wissen, dass autoritative Erziehung, nicht autoritäre, den besten Outcome hat. Das heißt, es gibt klar abgesteckte Grenzen da, wo es gefährlich wird, und darin gibt es Spielräume, über die man verhandelt – außer so Dinge wie Drogenkonsum zum Beispiel. Natürlich experimentieren Jugendliche damit, auch mit Sexualität, aber man muss eine Grenze ziehen und sagen, es ist nicht okay, wenn du das machst, und es gibt eine Konsequenz, wenn ich draufkomme. Aber das hat sich verschoben, dass Eltern sagen: Ich gebe feste Grenzen vor, und wir können uns innerhalb derer Sachen ausmachen. Das bröckelt.

STANDARD: Warum begeben sich diese jungen Mädchen überhaupt in so hochriskante Situationen?

Plener: Wir haben wenig bis gar keine Forschung dazu. Was können wir sagen? Mädchen kommen rein biologisch früher in die Pubertät. Schon vor der Pandemie waren Angst, Depression etc. quasi eine Domäne der Mädchen, und wenn das länger unbehandelt bleibt, gibt es manchmal den Versuch der Selbstmedikation. Sie suchen sich ein Mittel, um diesen Situationen zu entfliehen, und landen dann bei Drogen. Man muss auch mal sagen: Ein Rausch ist sehr billig geworden. Ein Ecstasy-Rausch ist billiger, als sich zu betrinken. Auch die Inhaltsstoffe werden immer potenter, wenn wir das Kiffen nehmen. Die THC-Konzentration bei Joints heute ist 14-mal höher als in den 70ern. Deswegen ist Kiffen für junge Gehirne wirklich schädlich. Bis 25, wo sich das Gehirn entwickelt, habe ich ein ziemlich großes Risiko, dass ich das Kiffen mit einer psychischen Erkrankung bezahle.

STANDARD: Zurück zu den Mädchen. Was weiß man über ihre Notlagen?

Plener: Viele diese Fälle waren der Kinder- und Jugendhilfe, für die ich gleich eine Lanze brechen will, bekannt. Wenn da reflexhaft kommt: Wieso lässt man die überhaupt noch auf die Straße?, muss man wissen: Das sind trotzdem Menschen, die gewisse Grundrechte haben. Sie können sich frei bewegen. Sechs Monate wegsperren, und alles ist gut – so funktioniert Suchttherapie nicht. Viele der betroffenen Mädchen waren aus problematischen Konstellationen, manche aber auch gutsituierten Familien. Das kann also überall passieren.

STANDARD: Reden wir über die Täter und ihre gewaltvolle Sexualität und Frauenverachtung. Was sehen Sie da?

Plener: Wenn wir über die Täter reden, dann reden wir über Jugendliche und junge Erwachsene, die offensichtlich eine gewisse Perspektivlosigkeit haben, also häufig am Arbeits- oder Ausbildungsmarkt nicht Fuß gefasst haben und dann ihre Zeit anderweitig organisieren. In Gruppen. Das ist so, so ticken Jugendliche, das ist ihre Entwicklungsaufgabe. Die Frage ist: Gibt es ein anderes Angebot, das ihnen gemacht werden kann? Offensichtlich waren wir als Gesellschaft – ich weiß schon, das klingt nach Kuschelkurs – nicht in der Lage, sie hereinzuholen. Da denke ich nicht nur an unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Wir sind eine alternde Bevölkerung. Unsere Chance wäre, dass wir massiv Geld in diesen Bereich stecken, weil wir alle, auch die, die zu uns kommen, ja unbedingt brauchen, um diesen Staat aufrechtzuerhalten, sonst wird unsere Gesellschaft kippen. Wenn wir nichts anbieten, wird bei vielen Jugendlichen aus Langeweile irgendwann, nachdem sie Grenzen austesten, etwas passieren, das Richtung Delinquenz gehen kann.

STANDARD: Wobei die allermeisten der Täter nicht unbegleitet waren, sondern sehr wohl Familie hier hatten.

Plener: Wir haben natürlich den Risikofaktor Armut und viele andere.

STANDARD: Aber nicht alle, die arm sind, sind sexuell gewalttätig.

Plener: Um Gottes willen, nein! Aber wir haben hier auch eine Bildungsschere offen und wissen, dass die Bildungsungerechtigkeit in der Pandemie massiv zugenommen hat. Und ich glaube schon, dass es eine Gruppe derer gibt, die sich einfach nicht zugehörig fühlen, unabhängig, ob es da Migrationshintergrund gibt oder nicht. Aber es ist natürlich auch immer eine Frage der Werte. Was bekomme ich von zu Hause mit über die Frage: Wie gehe ich mit meinen Mitmenschen um? Mit Frauen, mit Männern. Gewalt nicht als Mittel einzusetzen oder Sachen zu erzwingen hat auch mit Erziehung zu tun, egal, welche Kultur. Es gibt genauso Österreicher, die solche Sachen machen.

STANDARD: Allerdings hatten alle jugendlichen Täter in den publik gewordenen Fällen in irgendeiner Form eine migrantische Biografie. Es war quasi kein Thomas aus dem Gymnasium oder ein Leon aus der HTL darunter.

Plener: Eben. Wir wissen, dass Bildung in Österreich vererbt wird, und der Faktor Bildung ist oft mit sozioökonomischen Faktoren verknüpft. Der Thomas in der AHS hat oft Eltern, die ihn unterstützen, weil sie nicht in prekären Jobs arbeiten und insgesamt vielleicht ein familiäres Netz haben, wo das gestützt wird. Wir sehen aber unabhängig vom Migrationshintergrund auch die, die sich nicht zugehörig fühlen, weil sie mit Eltern aufwachsen, die selber am Straucheln sind, finanziell oder am Arbeitsmarkt, die krank sind und nicht diese Stabilität bieten können. Das ist die Risikokonstellation. Allerdings sehen wir auch extrem viele Jugendliche mit Migrationshintergrund, die toll unterwegs sind oder sich schulisch fast zu sehr unter Druck setzen, weil sie das Gefühl haben, sie müssen diejenigen sein in der Familie, die es rausreißen. Denen geht’s auch nicht immer gut.

STANDARD: Was muss mit den jugendlichen Tätern passieren?

Plener: Man muss mit ihnen arbeiten. Die Frage ist, passiert das? Es gibt ja die unsägliche Debatte über die Senkung des Strafmündigkeitsalters. Alle, die real mit Jugendlichen arbeiten, sagen: Bitte macht das nicht! Einsperren hat keine präventive Wirkung und wird nichts ändern. Wenn wir Zwölfjährige ins Gefängnis sperren, werden sie dort eher nicht viel von dem bekommen, was sie eigentlich bräuchten: sozialpädagogische, psychotherapeutische und psychiatrische Betreuung. (Lisa Nimmervoll, 2.4.2024)