Stammwerk von Embraer in São José dos Campos
Im Stammwerk von Embraer in São José dos Campos werden Kurzstreckenflugzeuge gebaut, die in die ganze Welt verkauft werden – auch nach Österreich.
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Die Pleiten- und Pannenserie des Flugzeugherstellers Boeing ist beispiellos in der jüngeren amerikanischen Luftfahrtgeschichte. Der Beinahe-Absturz einer Boeing 737 Max 9 im Jänner durch einen herabfallenden Rumpfteil war, wie man heute weiß, kein negativer Sonderfall. Boeing präsentiert sich derzeit als Konzern mit einer starren und von Spardiktaten geprägten Unternehmenskultur, in der immer wieder schwere Fehler passieren.

Das sieht auch die US-Luftfahrtbehörde FAA so, die Boeing sogar vorläufig verbot, seine Produktion auszuweiten. Nach den zwei Boeing-Abstürzen 2018 in Indonesien und 2019 in Äthiopien hätte unter dem neuen Boss Dave Calhoun alles besser werden sollen. Mittlerweile ließ der 66-Jährige mitteilen, bis Jahresende abzutreten.

Wer kann profitieren?

Dabei wächst der globale Luftverkehr nach der Corona-Delle wieder – eigentlich gute Zeiten für Flugzeugbauer. Über den Höhenflug des europäischen Konzerns Airbus ist schon viel geschrieben worden. Die Nachfrage der Fluglinien nach Maschinen der A320-Familie ist derzeit größer als die Produktionskapazität.

Aber könnten auch andere, kleinere Flugzeugbauer vom Boeing-Sinkflug profitieren? Ein logischer Kandidat dafür wäre Embraer aus Brasilien, in der zivilen Luftfahrt weltweit auf Platz drei.

Erfolgreich in der Nische

Wer ist die vergleichsweise unbekannte Nummer drei? Embraer beschäftigt in São José dos Campos, unweit der Metropole São Paulo, rund 18.000 Mitarbeiter und baut vorwiegend kleine Flugzeuge. Die Bestseller von Embraer sind die Modelle der E-Jet-Familie. Auch Austrian Airlines hat ein Modell in ihrer Flotte, die Embraer 195. Sie fasst 120 Sitzplätze und schafft bis zu 2.140 Kilometer weite Strecken.

In der Luftfahrtbranche genießt Embraer einen guten Ruf, während Boeing mit seiner Reputation zu kämpfen hat. Kann von Südamerika aus die Attacke auf den US-Riesen gelingen? "Embraer hätte fachlich wohl schon das Zeug dazu, in das Segment von Boeing und Airbus vorzudringen. Die Frage ist, ob die finanziellen Mittel da sind, um die beiden angreifen zu können", sagt Michael Santo, Luftfahrexperte von der Münchner Unternehmensberatung H&Z, dem STANDARD. Da habe er seine Zweifel.

Denn um Marktanteile von Airbus und Boeing zu gewinnen, müsste Embraer größere Flugzeuge bauen – ein Konkurrenzmodell zum Airbus A320 und zur Boeing 737. Das wäre sehr teuer. Ähnlich wie Santo äußerte sich kürzlich auch der Embraer-Ingenieur Rodrigo Silva e Souza im "Spiegel": "Wenn das schiefgeht, könnte es die ganze Firma in den Ruin reißen." Zum Vergleich: Im Jahr 2023 lieferte Embraer 181 Flugzeuge aus, beim Konkurrenten Airbus waren es 735 Stück. So erreichen die Europäer auch für Investitionen eine andere Flughöhe.

Embraer-Chef Francisco Gomes Neto
Embraer-Chef Francisco Gomes Neto schließt nicht aus, dass sein Konzern in etwa zwei Jahren die Entwicklung eines Langstreckenflugzeugs in Angriff nimmt.
APA/AFP/NELSON ALMEIDA

Geplatzter Boeing-Deal

Auch Boeing trägt seinen Anteil daran, dass die finanzielle Situation bei Embraer angespannt ist. Im Jahr 2019 wollte der US-Konzern die zivile Sparte von Embraer noch übernehmen. Am Ende ging es nicht um einen Kauf, sondern um ein Joint Venture, doch der Deal platzte. Seit zwei Jahren schreibt Embraer wieder Gewinne. "Meiner Einschätzung nach ist das Joint Venture daran gescheitert, dass Boeing durch seine Krisen nicht mehr über die finanziellen Mittel verfügt hat. Die Übernahme hätte tatsächlich sehr gut in die Produktfamilie von Boeing gepasst", sagt Santo.

Ausschließen wollen die Brasilianer den Bau eines Langstreckenfliegers aber auch nicht. Konzernchef Francisco Gomes Neto sagte, in zwei Jahren – wenn Embraer finanziell konsolidiert sei – werde man "entscheiden, ob wir einen großen Jet entwickeln".

Gefahr einer Bruchlandung

Die Gefahr einer wirtschaftlichen Bruchlandung sieht auch Luftfahrtexperte Santo: "Wenn bei einem Automobilbauer mit einer breiten Produktpalette etwas schiefgeht, tut ihm das zwar weh, aber es wäre verkraftbar. Wenn ein Unternehmen wie Embraer beschließt, ein Mittel- und Langstreckenflugzeug zu bauen, ginge man voll ins Risiko." Denn: Embraer habe keine Erfahrung in dem Segment und würde sich von den großen Herstellern Boeing und Airbus wirklich gute Leute holen müssen. (Lukas Kapeller, 3.4.2024)