Der schottische Bestseller-Autor John Niven beschreibt in der autobiografischen Geschichte
Der schottische Bestsellerautor John Niven beschreibt in der autobiografischen Geschichte "O Brother" das kurze, heftige Leben seines Bruders Gary.
Tibor Bozi

Der Tod ist nicht das Ende. Nicht für jene, die weiterleben. Er bringt ihnen aber keine Erlösung – nicht im Falle des John Niven. Der beschreibt das Dilemma, in dem er steckte, als er nach dem Tod seines kleinen Bruders Gary mit seiner Schwester darüber sprach, was er noch alles hätte für ihn tun können. Was wäre gewesen, wenn.

Doch der Albtraum weicht nicht, denn die Wahrscheinlichkeit, dass ein anderes Handeln das Leben seines Bruders gerettet hätte, erscheint beiden gering. Und dann beschleicht sie das Gefühl der Erleichterung, das mit einem Fass voll Scham kommt. Ist es nicht besser, dass es vorbei ist? Darf man das sagen, darf man so fühlen? War der kleine Bruder nicht schon zu lange ein hoffnungsloser Fall und "zu oft ein Arschloch"?

John Nivens Buch O Brother ist die autobiografische Geschichte des schottischen Erfolgsautors und die seines mittels Suizids aus dem Leben geschiedenen Bruders Gary. Der war 42 Jahre alt, als er 2010 ging. Es ist die Chronik eines angekündigten Todes, doch die Art, wie Gary sein Leben beendete, war nicht hinzunehmen. Er erhängte sich mit einem Pullover im Spital, in das er sich bringen ließ, aus Angst, er könnte sich etwas antun. Ein Skandal, der ein Gerichtsverfahren nach sich ziehen sollte.

Die Kurve gekriegt

Es dauerte, bis Niven, heute 58, bereit war, diese Geschichte aufzuschreiben. Denn sie ergibt letztlich ein Verdikt, und wer ist er, sich so etwas anzumaßen? Beide Brüder sind ihren Weg gegangen, beide waren exzessiv dabei, ihre Leben auf der falschen Bahn zu führen, doch nur John hat die Kurve noch gekriegt.

John Niven ist ein spät berufener Autor. Bevor er ein solcher wurde, war er in der Musikindustrie als A&R, als Manager für "Artist and Repertoire", tätig. Als solcher hat er einst eine Band abgelehnt, von der er meinte, sie sei Radiohead für Trotteln, keine Chance hätte sie am Markt. Der Name der Gruppe? Coldplay.

O Brother ist eng mit Nivens eigener Biografie verflochten. Aufgewachsen an der schottischen Westküste in einfachen Verhältnissen, ergreift sein Vater jede sich ihm bietende Chance und bringt es zu bescheidenem Wohlstand. Die Nivens haben drei Kinder, John ist der gescheite, gut in der Schule und folgsam, dessen Biografie erst durch ein Erweckungserlebnis mit der Band The Clash erschüttert wird. Linda ist der kleine Engel, das Sandwichkind Gary ist der, der Probleme macht. In der Schule überzeugt er nur in den Fächern Renitenz und Eigensinn.

Witz und Furor

Zu Beginn dieser dramatischen Familienaufstellung dosiert Niven seine eigene Biografie etwas hoch, doch das pendelt sich ein. Die Nivens sind eine halbwegs funktionierende Familie, in der Pubertät stößt John nachhaltig zur Musik. Er wird Fan, gründet eine eigene Band, verlässt Schottland, um in London Popstar zu werden, was sich aber natürlich nicht ausgeht. Er wechselt die Seiten, landet in der Musikindustrie und trifft sein Idol Joe Strummer – beim Pinkeln am Klo. Eine böse Satire über diese Jahre – Kill Your Friends – wird 2008 Nivens erster Bestseller, weitere folgen. Als Musikfuzzi jettet er in den 1990ern um die Welt, kokst, bewegt sich zwischen Reich und Schön und Deppert – und scheitert am Ende beruflich wie privat.

Doch während er einen Uniabschluss hat und mit der Literatur einen vagen Plan B, stolpert sein Bruder bloß rücksichtslos durchs Leben. Er wird Raver, drogensüchtig, rutscht ins Kriminal, landet im Knast, erfängt sich scheinbar, stürzt wieder ab, wird Vater, er leidet an Cluster-Kopfschmerzen, bestiehlt die Mutter, belügt alle, die ihn lieben und ihm helfen.

Das Ende von O Brother steht am Anfang schon fest, dennoch ist es eine fesselnde Reise auf dem Weg nach unten. Niven ist schonungslos mit allen, beschreibt das Unbeschreibliche in einer Balance aus gesundem Witz und befangenem Furor. Es geht um die Liebe zu einem Monster. Diese Zerrissenheit versucht er zu verarzten, wissend, dass er diese klaffende Wunde mit dem ihm zur Verfügung stehenden Pflaster nicht heilen kann. Aufgeben tut er nicht. Der Tod mag schneller gewesen sein, die Liebe aber, die ist am Ende stärker. (Karl Fluch, 10.4.2024)