Dominik Kamalzadeh und Claudia Slanar, das neue Führungsduo der Diagonale, in ihrem Wiener Büro.
Dominik Kamalzadeh und Claudia Slanar, das neue Führungsduo der Diagonale, in ihrem Wiener Büro.
APA/HANS KLAUS TECHT

Ein Aufbruch ins Ungewisse ist der Diagonale-Einstand des neuen Leitungsduos Dominik Kamalzadeh und Claudia Slanar nicht. Dafür hat das Festival des österreichischen Films, das seit 1998 alljährlich in Graz stattfindet, zu viel Geschichte. Vieles – wie die Hauptwettbewerbe oder der Branchentreff – ist fest etabliert. Nach über zwei Jahrzehnten als Filmkritiker des STANDARD steht Kamalzadeh jetzt auf der anderen Seite. Wie blicken die beiden Wiener mit ihrer langjährigen Erfahrung in der hiesigen Filmkulturszene auf ihre allererste Festivaledition?

STANDARD: Wie kam die Entscheidung zustande, sich gemeinsam für die Diagonale-Leitung zu bewerben?

Slanar: 1998 waren wir gemeinsam in einem Uni-Lehrgang für Film- und Geisteswissenschaften. Mit diesem Kurs sind wir das erste Mal zur Diagonale gefahren. Seitdem kennen wir uns und sind im regen Austausch über Filme und Festivals.

Kamalzadeh: Wir sind nicht typegecastet!

STANDARD: Sie sind beide neu im Festivalgeschäft. Was waren die größten Überraschungen?

Slanar: Die Gleichzeitigkeit von Entscheidungen.

Kamalzadeh: Das ist wie ein Maulwurfsbau. Man gräbt ein bisschen in die eine Richtung und will eigentlich noch weitergraben, aber dann muss man schon wieder in die andere Richtung. Sonst fand ich die Dialogbereitschaft und die konstruktive Auseinandersetzung mit der Branche überraschend. Wir haben viele Feedbackgespräche mit Verbänden geführt, in denen es darum ging, herauszufinden, welche Themen gerade virulent sind. KI war ganz oft ein Thema. Dazu wird es auch eine Diskussionsrunde geben.

STANDARD: Wie wichtig ist die Diagonale für die österreichische Filmbranche?

Kamalzadeh: Ein Alleinstellungsmerkmal der Diagonale ist, dass sie die Möglichkeit bietet, als Branche zusammenzukommen und den intensiven Austausch zu fördern. Das wird über Veranstaltungen wie das Filmmeeting gewährleistet. Großes Interesse besteht auch daran, in einen internationalen Dialog zu treten, denn durch den neuen Förderanreiz verändert sich im Produktionsbereich gerade vieles. In diese Richtung möchten wir uns auch weiterentwickeln, um den kulturellen Austausch zu stärken.

STANDARD: Der kulturelle Austausch ist ein roter Faden im Programm – ist das dem Versuch eines Ausbruchs aus dem nationalen Filmfestivalkontext geschuldet?

Kamalzadeh: Ausbrechen impliziert ein Gefangensein. Ich würde es eher als Erweiterung empfinden, wobei das Nationale etwas ist, das unaufhörlich in Bewegung ist. Wir haben auch Filme von internationalen Regisseuren gesichtet, die gerade in Österreich studieren. Da merkt man, was für stilistische Eigenheiten mitmigrieren. Umgekehrt gibt es viele Österreicher und Österreicherinnen, die im Ausland studieren. Die Filmgemeinschaft denkt da sehr mobil, man ist viel im Austausch, ein konstruierter Begriff wie "national" fasst das nur bedingt. Insofern ist es generell eine Erweiterung, die wir ganz bewusst anpeilen.

Slanar: Ich finde "Ausbrechen" doch recht schön, weil es eine Dringlichkeit impliziert. Und die hat es tatsächlich. Aus der Branche wurde der Wunsch nach Öffnung an uns herangetragen. Für eine jüngere Generation ist es relativ selbstverständlich, sich in verschiedenen Ländern und Schulen zu bewegen, was auch ein Privileg ist.

"Die Filmausbildung ist auf jeden Fall ein Privileg."

STANDARD: Inwiefern ein Privileg?

Slanar: Die Filmausbildung ist auf jeden Fall ein Privileg.

Kamalzadeh: Wir versuchen auch Personen zu erreichen, die vielleicht gar nicht daran denken, bei der Diagonale einzureichen. Das Filmpitching-Projekt mit Gewächshaus ist der Versuch, diverser zu werden und zu ermöglichen, dass auch Menschen aus der People-of-Color-Community auf das Festival kommen und Teil des Geschehens sind.

STANDARD: Im Diskursprogramm ist ein vieldiskutiertes Thema abwesend: Machtmissbrauch. Eine bewusste Entscheidung?

Slanar: Das Thema zieht sich durch die verschiedenen Debatten. Beim Filmmeeting ist einer der Schwerpunkte "Gesundheit". Da geht es sehr wohl um Arbeitsbedingungen in der Ausbildung oder am Filmset. Die Themen "Sorge tragen" und "Gesund bleiben" – nicht nur physisch, sondern auch psychisch – sind umfassend. Das betrifft ebenso den Umgang miteinander und Machtasymmetrien. Auch bei der Vorstellung des "Gender Report" wird es darum gehen. Denn das Problem liegt in gewachsenen Strukturen, die teils bestimmten Gesellschaftsformen und -normen geschuldet sind. Es geht darum, diese Strukturen immer wieder zu diskutieren, zu ändern und aufzubrechen. Wir arbeiten neuerdings mit einem Awareness-Team zusammen, das uns das gesamte Festival über begleitet und als Ansprechstelle dient, falls es zu Übergriffen kommt. Da reagieren wir auch auf einen Paradigmenwechsel.

STANDARD: Bei den Filmen fällt die gute Frauenquote auf. Zufall oder abgezählt?

Kamalzadeh: Wir haben natürlich gezählt.

Slanar: Wir haben ein diverses Sichtungskomitee. Es ist zwar immer noch klein, aber wir haben darauf geachtet, internationale Positionen und unterschiedliche Identitäten mit einzubeziehen. Es ging uns darum, einen möglichst breiten und spannenden Dialog über die eingebrachten Arbeiten herzustellen.

Kamalzadeh und Slanar sind seit ihrem ersten gemeinsamen Diagonale-Besuch 1998 befreundet.
Kamalzadeh und Slanar sind seit ihrem ersten gemeinsamen Diagonale-Besuch 1998 befreundet.
APA/HANS KLAUS TECHT

STANDARD: Wie offen sind Sie für Serien- und TV-Produktionen?

Slanar: Wir sind sehr offen für Fernsehformate, wir führen etwa die ORF-Kooperation weiter. Diesmal haben wir drei ORF-Premieren, eine davon ist ein Serienformat. Es ist aber auch die Frage, was produziert wird ...

Kamalzadeh: ... beziehungsweise was eingereicht wird. Es gibt jeden Herbst einen Aufruf für Einreichungen, wo bisher aus dem TV-Bereich nicht viel kam. Da müsste sich das Bewusstsein der Branche auch ändern, um das Festival als Plattform zu nutzen.

STANDARD: Welche Einreichungen haben Sie positiv überrascht?

Kamalzadeh: Der Kurzspielfilm. Ich gebe offen zu, dass ich den in den letzten Jahren vernachlässigt habe. Ich war völlig baff, wie rezent die Themen sind und dass es da eine berauschende stilistische Vielfalt gibt.

Slanar: Ich kann dem nur zustimmen. Das war für mich eine totale Überraschung und Entdeckung. Interessiert hat mich auch schon immer das Dokumentarische, und ich bin froh, das ausbauen zu können.

STANDARD: Wie wurde denn der Langfilmwettbewerb zusammengestellt? Einige Filme laufen außer Konkurrenz.

Kamalzadeh: Das regeln die Statuten. Minoritäre Koproduktionen etwa dürfen gar nicht am Wettbewerb teilnehmen – wenn ein Film aber den Regularien entspricht, dann muss er sogar im Wettbewerb laufen. Dann gibt es etwa den Film Å Øve von Laurens Pérol, einem norwegischen Filmemacher, der gerade an der Filmakademie studiert. Es ist eine norwegisch-deutsche Produktion, aber da wir den Film so stark fanden und der Regisseur nun Teil einer österreichischen Filmgemeinschaft ist, haben wir ihn außer Konkurrenz mit aufgenommen. So etwas entscheiden wir von Fall zu Fall.

STANDARD: Während der Diagonale wirkt Graz oft wie ein Klein-Wien. Wie wichtig ist Ihnen der Austausch mit Graz und der Steiermark?

Kamalzadeh: Die eine Bewegung, von der wir gesprochen haben, ist die nach außen, die andere ist die in Richtung Steiermark. Wir haben das Vorhaben, die Diagonale ganzjährig präsenter zu machen und Kooperationen mit regionalen Initiativen einzugehen. Damit sind nicht nur klassische Filmabspielstätten gemeint, das können auch andere Festivals sein, Theaterprojekte oder Multiplex-Kinos.

Slanar: Wir haben schon konkrete Gespräche in der Hinsicht geführt und arbeiten in Graz selbst mit einigen Institutionen zusammen. Außerdem sind wir dabei, immer mehr Grazer Experten und Expertinnen mit einzubeziehen. Wir haben auch versucht, Verbindungen zu Communitys oder Veranstaltungsorten herzustellen, die nicht klassisch im Festivalbereich liegen. Das sind Zielvorstellungen, die im ersten Jahr nicht unbedingt fruchten müssen. Aber das ist eine Perspektive, auf die wir uns Schritt für Schritt hinbewegen möchten. (Valerie Dirk, 4.4.2024)