Integrationsexperte Kenan Güngör bei einer Debatte im Burgtheater.
Der Soziologe und Integrationsexperte Kenan Güngör warnt vor einer populistisch angelegten Leitkulturdebatte (im Bild bei einer "Europa im Diskurs"-Matinee im Burgtheater am 8. März 2020).
Christian Fischer

Die von Integrationsministerin Susanne Raab (ÖVP) verantwortete Suche nach einer "Leitkultur" für Österreich muss ohne die Expertise des Soziologen Kenan Güngör auskommen. Einer der bekanntesten und anerkanntesten Experten zum Themenkomplex Integration und Diversität in der Gesellschaft hat nach der ersten Expertenrunde am Donnerstag vor einer Woche beschlossen, diesem Forum nicht angehören zu wollen, wie er im "Newsflix"-Podcast im Gespräch mit Christian Nusser erklärte. "Ich habe gemerkt, dass es unter diesen Bedingungen nicht möglich ist, einen sinnvollen Diskurs und einen sinnvollen Beitrag zu leisten, und deshalb habe ich gesagt, dass ich unter diesen Bedingungen nicht bereit bin, daran weiter mitzuwirken."

Was meint Güngör mit "diesen Bedingungen"? Im STANDARD-Gespräch erklärt der Sozialwissenschafter, der seit 2007 in Wien das Beratungs- und Forschungsbüro Think Difference betreibt, dass er in einer "ersten Austauschrunde" mit Raab und ihrem politischen Büro schon zu bedenken gegeben habe, "dass 'Leitkultur' ein schwieriger Begriff ist, gerade vor dem Hintergrund des anstehenden Wahlkampfs. Und ich unterscheide sehr stark und genau zwischen gesellschaftlichen Herausforderungen und dem wahlpolitischen Kalkül einer Partei." Er habe der ÖVP-Ministerin schon vor dem ersten Treffen der Expertinnen und Experten gesagt: "Wenn man das nicht vernünftig angeht, kann es schnell eine populistische Aktion werden." Nach den Vorgesprächen mit der Ministerin habe er auch den Eindruck gehabt, dass ihr das Thema an sich wichtig sei.

Gutes, auch kontroverses Expertengespräch

Das Gespräch zwischen den Fachleuten sei dann auch "sehr offen und durchaus auch kontrovers verlaufen", sagt Güngör. "Es ging auch darum, ob Leitkultur überhaupt der richtige Begriff ist. Ich würde sagen, dass eine 'Leitwertedebatte' sinnvoller wäre." Das sei von Raab auch sehr interessiert aufgenommen worden. Darum habe er, Güngör, die Donnerstagsrunde auch "positiv gestimmt verlassen" – doch dann poppte am Karfreitag die ÖVP-Kampagne zur "Leitkultur" in der türkisen Lesart auf. Da war zu lesen: "Tradition und Brauchtum. Das gehört für uns zur Leitkultur", im Hintergrund eine Blasmusikkapelle als Dekor. Oder: "Tradition statt Multikulti. Das ist für die Leit-Kultur", illustriert mit in Tracht gekleideten Männern, die einen Maibaum aufstellen. Ein anderes Sujet lautete: "Wer glaubt, einer Frau nicht die Hand zu geben, weil sie 'unrein' ist, muss gehen." Was unmittelbaren Protest der Israelitischen Kultusgemeinde auslöste, weil auch religiöse Juden und Jüdinnen den Handschlag mit fremden Menschen im Alltag oft vermeiden.

Jedenfalls war das der Punkt, an dem Güngör, der auch als Organisationsberater und internationaler Experte für Integrations- und Diversitätsfragen tätig ist, wusste, dass er in diesem Prozess keine aktive Rolle übernehmen will. "Das Problem nach dem guten ersten Gespräch war die unsägliche ÖVP-Sujetlinie, die das völlig konterkariert, was mit dem eigentlich beabsichtigten Prozess geleistet werden sollte. Das führt zu keiner normativen Konsensfindung, sondern viel eher zu einer Spaltung und Polarisierung nach dem Motto 'Wir gegen die anderen'. Und das ist gesellschaftspolitisch nicht zu verantworten." Zwar habe die ÖVP die umstrittenen Leitkultursujets "relativ schnell" wieder aus dem Verkehr gezogen, aber insgesamt hat Güngör das Gefühl, dass das Thema, auch mit Blick auf den Wahlkampf, "noch nicht genug ausgearbeitet ist. Man eiert herum zwischen Verfassungswerten und sozialen und kulturellen Werten."

Drei Wertestufen und Konfliktfelder

Eine sachlich angemessene "Leitwertedebatte" müsste drei Stufen umfassen, erklärt der Soziologe – von verfassungsrechtlichen Werten wie Gleichheit und Freiheit über soziale Werte wie Toleranz, Respekt und Pluralitätsfähigkeit bis hin zu kulturell normierten Vorstellungen, die ebenfalls zu diskutieren seien. "Darüber müssen wir sprechen und uns bewusst sein, dass es da Graubereiche und natürlich auch Konfliktfelder gibt, die wir in einem selbstreflexiven Diskursprozess als Gesellschaft führen müssen." Betonung auf Gesellschaft. Eine "Leitkulturdebatte", die nur die ÖVP führt oder anführen möchte, reicht nicht.

Die Volkspartei hat das Werbesujet "Tradition statt Mulitkulti" am Freitagnachmittag übrigens von ihrer offiziellen Website gelöscht. Dort, wo es noch zu sehen ist, etwa auf Facebook, wurde es rechtschreibtechnisch adaptiert: Aus der "Leit-Kultur" wurde wieder die von der Blasmusik repräsentierte "Leitkultur". Dabei hatte sich der Präsident des Österreichischen Blasmusikverbands, Erich Riegler, bereits zuvor im STANDARD-Gespräch gegen die Vereinnahmung durch Parteien verwahrt. Er selbst könne mit dem Wort "Leitkultur" nämlich "nichts anfangen", sagte Riegler, es sei nicht definiert, was damit gemeint sei. Im Übrigen sei der Blasmusikverband nicht parteipolitisch organisiert.

ÖVP-Parteimanager: "Nicht optimale" Sujets

ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker sagte am Donnerstag im Rahmen einer Pressekonferenz zu Güngörs Entscheidung, sich nicht am jetzt gestarteten Setting beteiligen zu wollen: "Ich bedaure seinen Ausstieg, ich hätte mich gefreut, wenn er weiter zur Verfügung gestanden wäre." Stocker räumte auch ein, dass die Kampagne zum Thema Leitkultur "nicht optimal war, wir haben die Sujets auch teilweise aus dem Verkehr gezogen." Wenn Güngör meine, "dass er nicht in den Wahlkampf gezogen werden will, ist das zu respektieren. Es ändert nichts daran, dass ich seine Expertise nach wie vor schätze". (Lisa Nimmervoll, Gudrun Springer, 4.4.2024)

Update: Der Artikel wurde um 13.05 Uhr um eine Stellungnahme von ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker ergänzt.