Serie Jubiläum Karl Kraus Amoral
Er zieh Heinrich Heine der Unredlichkeit: Weil dieser nicht empfunden, was er gedichtet hätte, sondern bloß auf die Wirkung bei den Leserinnen und Lesern kalkuliert.
Hilscher/ÖNB-Bildarchiv

Die Literatur Heinrich Heines, ihren Witz, den ihr eigenen Sarkasmus, befand Karl Kraus nicht nur für bedenklich. An ihr, und an ihrem Urheber, nahm er entschieden moralisch Anstoß. Vor gut 100 Jahren gehörte die Lektüre der Dichtungen Heinrich Heines zu den subversiveren Bildungserlebnissen, die sich das Besitzbürgertum glaubte zumuten zu dürfen.

Man genoss es, dass Heine – der doch scheinbar keine Sentimentalität scheute – die Gefühligkeit seiner Verse mit Ironie versah. Mitten hinein in die Andacht setzte er den streng kalkulierten Misston – das Gelächter des Ungläubigen während der heiligen Messfeier.

Just nicht dieses bekrittelte Karl Kraus in seinem Aufsatz Heine und Folgen, erschienen 1910. Der Herausgeber der Fackel zielte höher, indem er Heine gleich überhaupt der Unverantwortlichkeit beim Dichten zieh. Vornehmlich schalt er Heine, den Paris-Emigranten, für die ungezählten Nachahmer, die dieser gefunden hatte. Diese Klein-Heines hätten sich, zu unser aller Nachteil, in den Verlagshäusern der Presse zusammengerottet, vornehmlich in den Sonntagsbeilagen, wo sie fröhlich Form und Inhalt miteinander verwechselten.

Kraus' wahrer Feind war das Feuilleton. In ihm, so sein Vorwurf, gebärde sich der Journalist als falscher Ästhet. Der Dichter degeneriere hingegen zum Zeilenschinder. Aus falscher Freude am Malerischen werde jeder Sachverhalt durch sprachlichen Farbauftrag verunstaltet. Erst dadurch gerieten die Kategorien in die schändlichste Verwirrung.

Griff ins Menschenleben

Wenige Sätze Kraus' haben so sehr Eindruck wie Schule gemacht wie sein berühmtestes Verdikt über Heine. Es verrät Schamhaftigkeit. Heine habe "der deutschen Sprache so sehr das Mieder gelockert, dass heute alle Kommis an ihren Brüsten fingern können".

Kaum jemand wüsste heute noch anzugeben, dass mit "Kommis" der Handlungsgehilfe gemeint war. Mit dem Griff hinein ins volle Leben verhält es sich wie folgt: Der Missbrauch der Sprache resultiert aus der Unfähigkeit, etwas, das man gesehen hat, angemessen wiederzugeben.

Im Grundsatz kreidete Kraus der Presse ein Täuschungsmanöver an, einen Akt der Unterschlagung, vollzogen unter der Hand. Ausführende Organe finden sich zuhauf, in den Massen unterbezahlter Lohnschreiber. Diese peppen die meist dürftigen Informationen, die sie zu vermitteln haben, durch Sprachbeigaben auf. Die Crux solcher Berichterstattung besteht in der Identität von Talenten, die "einander wie ein faules Ei dem andern gleichen".

Heine versus Goethe

Moralisch verwerflich sei, wer so handelt. Der Tatbestand lautet bei Kraus: die "Verschweinung des praktischen Lebens durch das Ornament". Die Invektiven des Polemikers gegen Heine kann man, man muss sie sich aber nicht zu eigen machen. Als "prompten Bekleider vorhandener Stimmungen" geißelt ihn Kraus, er lässt ihn allen Ernstes gegen Goethe den Kürzeren ziehen.

Durch alle Zeilen seiner herrlichen Schmähschrift irrlichtert Kraus' metaphysisches Vertrauen in eine Sprache, die er für der Menschen heiligstes Gut ansieht. Sie ist unwandelbar, und damit Schluss. Folgenreicher scheint Karl Kraus' untrügliches Gespür für das Entstehen der Bewusstseinsindustrie: Diese reißt sich jeden Ausdruck wahrer Empfindung unter den Nagel. Das reine Herz wird mit Druckerfarbe beschmiert. Je größer der Stiefel, den die Lohnknechte zusammenschmieren, desto höher der Absatz, den die Erzeugnisse der Presse auf dem Unterhaltungsmarkt finden.

Klar ist: Vor Kraus' stilistischer Ethik findet niemand Gnade, es sei denn, er wäre der sprachlichen Meisterschaft des Wiener Satirikers ebenbürtig. Dennoch, seine scharfe Abrechnung mit der Amoralität des bloß gut Gemachten hat bis heute Scharen von Nachahmern gefunden. Man erkennt sie nicht allein an der Schärfe ihrer Formulierungskunst. Viele Kraus-Epigonen treibt die Lust um, als Scharfrichter zu hospitieren. Die Redaktionsstuben sind voll von ihnen. (Ronald Pohl, 6.4.2024)