Mathieu van der Poel hat sich bei der Flandern-Rundfahrt erfolgreich auf Pflastersteinpassagen eingerollt. Bei Paris–Roubaix ist der Titelverteidiger auch der klare Favorit.
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Paris – Thierry Gouvenou hat schon viel gesehen, aber eine Serie von schweren Unfällen, wie sie derzeit den Profiradsport erschüttert, hat selbst der ehemalige Klassikerspezialist und mehrmaliger Tour-de-France-Absolvent aus Frankreich noch nicht erlebt. "Stopp, stopp, stopp, lassen Sie uns das Massaker beenden", sagte der 54-Jährige in einem Interview mit "L'Equipe" aus gutem Grund.

Gouvenou gibt für die veranstaltende Amaury Sport Organisation (A.S.O.) den Renndirektor des Radklassikers Paris–Roubaix, der am Sonntag zum 121. Mal über die Bühne geht und von Eurosport ab 11.15 Uhr übertragen wird. Er wirkt aber für die A.S.O. auch als Technischer Direktor bei der Tour de France und also als zweiter Mann hinter Direktor Christian Prudhomme. Und die Tour, die heilige Kuh des Profiradsports, droht gegenwärtig etlicher Zugnummern verlustig zu gehen.

Toursieger aus dem Rennen

Erst am vergangenen Donnerstag könnte sich Jonas Vingegaard von der Titelverteidigung in diesem Jahr verabschiedet haben. Bei einem Sturz während der Baskenland-Rundfahrt, den auch der Belgier Remco Evenepoel mit Schlüsselbeinbruch bezahlte, erlitt der Däne neben einer Schlüsselbeinfraktur auch Rippenbrüche. Ob er am 29. Juni sein Team Jumbo-Visma beim Start der Großen Schleife in Florenz anführen kann, steht ebenso in den Sternen wie das Antreten seines belgischen Edelhelfers Wout van Aert, der bei einem Sturz beim Halbklassiker Quer durch Flandern ähnlich schwere Verletzungen erlitten hatte.

Auch Bora, das mit dem ebenfalls gestürzten Primoz Roglic immerhin noch hofft, dürfte in Lennard Kämna eine Tour-Hoffnung bereits eingebüßt haben. Der Deutsche war beim Training auf Teneriffa mit einem Auto kollidiert, die Auskünfte über seinen Zustand fielen besorgniserregend dürftig aus. Immerhin sei er stabil und ansprechbar.

Das UAE Team Emirates verzichtete bei den vielen gefährlichen Frühjahrsklassikern wohlweislich auf seinen Superstar Tadej Pogačar und schont den Slowenen und zweifachen Tour-Sieger auch am Sonntag.

Gut gemeint ist selten gut

Das Feld der Profis soll sich nach Möglichkeit nicht noch weiter lichten, die Rennveranstalter basteln an der Entschärfung ihrer Strecken, weil technische Entwicklungen auf dem Materialsektor, etwa effektivere Bremsen, nicht zur Sicherheit beigetragen haben – eher im Gegenteil. Renndirektor Thierry Gouvenou und seine Berater nahmen vor der ohnehin wegen ihrer Pflastersteinpassagen berühmt-berüchtigten Fahrt in die "Hölle des Nordens" chirurgische Eingriffe an der heuer 259,7 Kilometer langen Strecke zwischen Paris und dem Vélodrome André Pétrieux in Roubaix vor. Vor der Einfahrt in die gefürchtete Schneise durch den Wald von Arenberg, einem der größten Stressfaktoren des Rennens, wurde eine regelrechte Schikane eingebaut, die das Tempo des Feldes bremsen soll. Dies sei "aus Sicherheitsgründen und auf Antrag der Fahrervereinigung" geschehen, hieß es.

Der Wutweltmeister

Besonders der Input der Cyclistes Professionnels Associés dürfte nicht abgesprochen gewesen sein. "Soll das ein Witz sein?", kommentierte Weltmeister und Titelverteidiger Mathieu van der Poel, der auch mangels Konkurrenz der haushohe Favorit ist, die Streckenadaption. Sein Argument klingt einleuchtend. Gerade weil das Feld an dieser Stelle dramatisch langsamer wird, dürften die Positionskämpfe davor um so heftiger ausfallen.

Rennveranstalter Gouvenou nahm van der Poels Kritik nicht sonderlich gnädig auf. "Seit Monaten warnen wir alle. Die Rennveranstalter stellen zig Dinge auf die Beine. Aber wir stellen fest, dass die Stürze nur zunehmen." Die Stürze seien aber nicht nur auf die Streckenführungen zurückzuführen: "Fangen wir an, über die Geschwindigkeitsprobleme nachzudenken." Die Fahrer und deren Chefs, die Topergebnisse verlangen, seien gefordert.

Am Sonntag werden vermutlich längst nicht alle zur Besinnung gekommen sein. Und Stürze sind auf den Pave genannten Kopfsteinpflasterpassagen, zumal bei Nässe, ohnehin schmerzliche Normalität. 29 Pave-Sektoren erstrecken sich diesmal über eine Gesamtlänge von 55,7 km, so viel wie seit 30 Jahren nicht mehr. Als einziger Österreicher ist wie schon bei der Flandern-Rundfahrt der 33-jährige Kärntner Marco Haller für Bora am Start. (Siegfried Lützow, 7.4.2024)