Die Wiedervereinigung von Familien in dem Land, in dem ein Elternteil, Kind oder Ehepartner Asyl bekommen hat, gilt als wichtiger Faktor für gelingende Integration. Was es aber emotional für Menschen bedeutet, ihre nächsten Angehörigen nach Jahren auf der Flucht wiederzusehen, weiß Jan S.*, Verlagsmitarbeiter in Wien.

Erstaufnahmezentrum Traiskirchen in Niederösterreich
Erstaufnahmezentrum Traiskirchen: Hier lebte Masouda, bevor sie in eine Jugend-WG der MA 11 kam.
Foto: Heribert Corn

2021 haben S. und seine Frau die Patenschaft für Masouda N.* aus Afghanistan übernommen. Diese war mit nur zwölf Jahren allein aus Griechenland nach Österreich gekommen. Ihre Eltern und Schwester lebten in einem Flüchtlingslager nahe der Stadt Korinth. Masoudas älterer Bruder war verschollen. Er sollte später in Wien auftauchen; Versuche der Taliban, ihn als Kämpfer zu rekrutieren, hatten den Ausschlag für die Flucht der Familie aus Kabul gegeben.

Von Traiskirchen in eine Jugend-WG

Masouda beantragte Asyl und kam ins Erstaufnahmezentrum Traiskirchen. Dort habe sie "wochenlang nur geheult", erzählte sie später ihrem Paten. Sie habe gehofft, dass ihre Familie – mit der sie via Handy weiter in Kontakt war – rasch nachkommen könne. Doch das geschah nicht.

Wenig später nahm das Wiener Jugendamt (MA 11) Masouda unter seine Fittiche. Sie zog in eine Jugend-WG der Volkshilfe in Wien-Favoriten. Dort, sagt Jan S., habe das Mädchen begonnen, sich zu verändern. Sie habe die Sitten ihrer zwar nicht ausgeprägt religiösen, aber traditionsgebundenen afghanischen Mittelstandsfamilie hinter sich gelassen.

"Zusehends europäisch" geworden

"Sie ist zusehends europäisch geworden", sagt der 63-jährige Pate. Er zeigt Fotos von der heute 17-jährigen Masouda. Zu sehen ist eine modern gekleidete junge Frau mit langen, glatten Haaren und einem offenen Blick. Masouda trage kein Kopftuch, schildert er. Sie habe zügig Deutsch gelernt, die Mittelschule abgeschlossen und strebe nun eine Ausbildung als pharmazeutisch-kaufmännische Assistentin an.

Im Sommer 2021 fuhr Masouda als inzwischen anerkannter Flüchtling mit ihren Paten nach Korinth. Es war das erste Wiedersehen mit Eltern und Schwester nach drei Jahren – und entsprechend intensiv. "Es war sehr berührend", sagt Jan S.: "Jeder normale Mensch, der das erlebt, würde das verstehen."

Masoudas Eltern und Schwester erhielten in Griechenland Asyl. Ende 2022 kamen sie per Flugzeug aus Griechenland nach Österreich. In Wien gelang es ihnen, eine kleine Wohnung zu mieten – und sie forderten Masouda auf, wieder zu ihnen zu ziehen.

Distanz zur Community

Diese jedoch widersetzte sich. Sie wolle allein und selbstständig leben, sagte sie. Auch organisierte Zusammenkünfte mit jungen Männern aus der afghanischen Community lehnte sie ab – im Unterschied zu ihrer Schwester, mit der sie sich daher öfter stritt, berichtet Jan S.

Die Eltern, sagt S., würden das hinnehmen: "Für sie steht im Endeffekt das Wohl ihrer Kinder im Mittelpunkt." Zudem seien sie auf ihre emanzipierte Tochter angewiesen. Diese helfe ihnen mit ihren guten Deutschkenntnissen, etwa bei Behördengängen. Masouda wiederum scheint der Spagat zwischen Nähe und Distanz zu gelingen: "Die drei Jahre allein in Österreich haben ihr gutgetan", sagt Jan S. (Irene Brickner, 8.4.2024)

*Name geändert