Habermas Sozialphilosophie Weltinnenpoltik Staatsphilosoph BRD
Jürgen Habermas blickt vom idyllischen Starnberger See aus auf eine Welt im Umbruch: Das Konzept einer befriedenden, rechtlich verbrieften "Weltinnenpolitik" droht nicht nur Putins wegen zu scheitern.
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Achtung, die Lektüre der Schriften von Jürgen Habermas kann zu erheblichen Frustrationserlebnissen führen! Für jeden eiligen Betrachter gehört die Karriere des Weisen vom Starnberger See – Habermas wird heuer 95 – zu den erstaunlichsten Phänomenen der Nachkriegszeit.

Man muss sich die Situation in den 1950ern als prekäre und bedrängte vorstellen. Die Intuition des jungen Habermas‘ galt, wenige Jahre nach Beendigung der Nazi-Diktatur, Westdeutschlands Verankerung im Humanismus. Gesucht wurde nach Neubegründungen, nach der Grundlage für ein "gelungenes Leben" aller. Die Basis dafür wäre vernünftige Kommunikation - in wechselseitiger Inanspruchnahme geteilter Vorstellungen und universeller Werte.

Rund sieben Jahrzehnte später hat Jürgen Habermas eine ganze Bibliothek von Monumentalwerken verfasst, darunter die bis heute unter Wert gehandelte Theorie des kommunikativen Handelns (1981). Ergänzt werden die Werkziegel durch unzählige kleinere Schriften - und eine wahre Flut von Interventionen und Kommentaren. Noch heute hält Habermas, seines biblischen Alters ungeachtet, wie kein anderer Denker die vage Mitte zwischen Vergangenheit und Zukunft.

Die Gegenwart beschreibt Philipp Felsch. Er ist Autor der nüchtern konstatierenden Habermas-Hommage Der Philosoph, die im Untertitel lautet "Habermas und wir": ein famoses Traktat über das saure Geschäft des öffentlichen Denkens. Ein schlohweißer, ehrwürdiger Herr öffnet ihm die Tür zum Habermas-Bungalow. Er trägt fabrikneue Sneakers und nimmt am Hier und Jetzt beredt Anteil. Diogenes lebt nicht in der Tonne, sondern im Reihenhaus.

Begrabene Hoffnung

Habermas sagt, nach ausgiebiger Erörterung seiner Karriere als "Staatsphilosoph" der BRD, als Fürsprecher eines rechtlich verfassten Europas, das ein "normatives" Vorbild abgeben soll für die ganze Welt: "Das alles ist Vergangenheit." Begraben scheinen die Hoffnungen auf weltbürgerliche Verhältnisse. Man meint zu begreifen, dass daran nicht nur Putin und Trump die Schuld tragen.

"Hegel der Bundesrepublik" nannte den Intellektuellen ehrfurchtsvoll die Öffentlichkeit. Kanzler suchten bei dem spröden Sozialphilosophen Rat, Minister schöpften aus seinem Brunnen des Tiefsinns Zuversicht. Und doch verhält es sich genau umgekehrt. Für viele ist es gerade Habermas, der den Tiefsinn in der Philosophie abgeschafft haben soll. "Genie der Paraphrase" nannte ihn einst sein schillerndster Konkurrent, Fremdwortschmied Peter Sloterdijk.

Tatsächlich hat Habermas ohne Unterlass kompiliert. Er hat Theorieteile zusammengesucht, mit dem Ärmel des Professorenmantels sauber gewischt, sie neu zueinander in Beziehung gesetzt.

Seine frühe Bezugnahme auf die marxistische Gesellschaftsanalyse wich der umfassenderen Sicht auf das, was Gemeinschaften zusammenhält. Über seinem notorischen Erklärungsfleiß wurde Habermas zum "public intellectual".

Abkühlung des Denkens

Als Weltweiser verkehrte er mit allen Kontrahenten bevorzugt schriftlich – und brach als "staatstragender Denker" 1986 jene Debatte vom Zaun, die als "Historikerstreit" in die Annalen einging. In diesem publizistischen Scharmützel wurde der gedenkende Umgang mit den nationalsozialistischen Verbrechen zum Prüfstein. An ihm hatten sich die deutsche Öffentlichkeit zu messen, mit ihr der dazugehörige Staat. Deutschland sollte im Konzert der Demokratien wieder mitwirken dürfen, vernunftgeleitet, verfassungspatriotisch, gegenüber Europa unbedingt loyal.

Heute, im Starnberger Bungalow, weiß sich der Nestor der Sozialphilosophie vor der größten Gefahr gefeit: dem unkontrollierten Fall aus allen Wolken. Niemand hat mehr Verdienste um eine Abkühlung des Denkens erworben als Jürgen Habermas. Derweil drohten Generationen von Studenten angesichts der Sprödigkeit seiner Schriften zu verzweifeln.

Philipp Felschs verdienstvolle Skizze ist paradox: Sie markiert eine Zäsur ohne fühlbaren Einschnitt. Habermas befindet sich mitten unter uns. Zugleich teilt er seinem Besucher bei Kaffee und Kuchen mit: All das, was sein Leben ausgemacht habe, gehe gegenwärtig "Schritt für Schritt" verloren.

Das letzte Werkzeug des Philosophen ist der Fatalismus. (Ronald Pohl, 8.4.2024)