Blumen vor der Schule, die der verstorbene Shemseddine besucht hatte.
Blumen vor der Schule, die der verstorbene Shemseddine besuchte.
AFP/EMMANUEL DUNAND

Vier Jugendliche im Alter von 15 bis 20 Jahren sind am Montag wegen Mordes einem Pariser Richter vorgeführt worden. Vermummt und mit Handschuhen versehen, hatten sie in der Pariser Vorstadt Viry-Châtillon nach Schulschluss einen Schüler namens Shemseddine abgepasst. In einem Stiegenhaus schlugen sie ihn so brutal zusammen, dass er kurz darauf verstarb.

Shemseddines "Verbrechen": Der 15-Jährige soll mit der Schwester einiger der teilweise vorbestraften Schläger Kontakt gepflegt haben. Offenbar sprach das junge Pärchen – so es denn eines war – am Smartphone auch über Sexualität. Als die Brüder dies entdeckten, verlangten sie von allen männlichen Telefonkontakten, ihre Schwester in Ruhe zu lassen. "Shem", wie der friedliche, im Viertel allseits geschätzte Schüler genannt wurde, hielt sich aber nicht daran.

Dafür bezahlte er nun mit dem Leben. Die Pariser Medien sprechen von einem "crime d'honneur", einem Ehrenverbrechen. Der Staatsanwalt nannte als Tatmotiv "Angst um die Reputation der Familie".

"Gesetz der Taliban"

Bestürzung und höchste Entrüstung kennzeichnen die landesweiten Reaktionen. Regierungssprecherin Prisca Thevenot geißelte ein "barbarisches Verbrechen". Am weitesten ging der Rechtsaußen Eric Zemmour, der von einem islamisch-arabischen Ehrenkodex spricht und behauptet, in den französischen Banlieue-Vierteln herrsche heute das "Gesetz der Taliban".

Vergangene Woche hatte es an einer Vorstadtschule in Montpellier (Südfrankreich) bereits einen ähnlich schweren Vorfall gegeben. Samara, ein 13-jähriges Mädchen, wurde von einer Gruppe Gleichaltriger an der Schule so brutal verprügelt, dass es ins Koma fiel. Die kaum älteren Täterinnen wurden von einer Mittelschülerin angeführt, die sich islamisch mit Kopftuch und Abaya kleidet. Sie soll das Opfer auf den sozialen Medien seit langem wegen allzu freizügiger Bekleidung verfolgt sowie als "Hure" und, was noch schlimmer sein soll, "Kouffar" ("Ungläubige") beschimpft haben.

Samaras Mutter zeigte sich über die Tat, wie man sich vorstellen kann, schwer geschockt. Später verlas sie allerdings im Fernsehen eine schriftliche Erklärung, wonach ihre Tochter den aktuellen Ramadan befolge und fünfmal am Tag bete. Damit erreichte die Mutter aber nur, dass viele Stimmen hinter ihr den Einfluss islamischer Kreise ausmachen. Die frühere Schulleiterin und Beamtin Fatiha Boudjahlat glaubt, Samaras Mutter sei "umgedreht" worden: "Die islamische Patrouille hat sie gepackt." Samara werde sich, wenn sie ihre schweren Verletzungen überlebe, zweifellos nicht mehr "europäisch" kleiden.

Boudjahlat verlangt als radikale Lösung – gegen den offiziellen Diskurs –, die Mittelschulen aus den Einwanderervierteln zu entfernen. Ein Mädchen könne dem Druck der Islamisten oder ihrer Brüder nur entkommen, wenn es außerhalb des Viertels zum Unterricht gehe – also dort, wo der lange Arm der Radikalen nicht hinreiche. Ähnlich äußerte sich am Montag auch Mila, eine heute 20-jährige Französin, von der nur der Vorname bekannt ist, weil sie seit kritischen Islam-Aussagen unter Polizeischutz steht. Sie erklärte am Montag: "An den französischen Schulen gibt es heute eine Art Sittenpolizei – die von den Schülern selber ausgeübt wird. Die tragen selbst trotz des gesetzlichen Verbotes den Hijab und verlangen von Muslimas ein 'sittsames' Auftreten."

Keine "vorschnellen Schlüsse"

Viel diskutiert wird in Frankreich eine sichtbare Polizeipräsenz an den Schulen. Präsident Emmanuel Macron warnte in einer spontanen Wortmeldung indessen vor "vorschnellen Schlüssen". Das Phänomen der Jugendgewalt gehe viel weiter. In diesem Sinn äußert sich auch Innenminister Gérald Darmanin, der seit längerem vor der "Verwilderung" ("ensauvagement") der ganzen Gesellschaft warnt.

Die Medien sind täglich voll von den 20.000 Fällen physischer Gewalt, welche die französische Kriminalstatistik jährlich anführt. Die Täter werden immer jünger. Der Bürgermeister von Viry-Châtillon, Jean-Marie Vilain, berichtete am Montag in einer TV-Sendung vom schwer vorstellbaren Jugendelend, das in seiner landesweit berüchtigten Banlieue-Siedlung Grande Borne herrsche. Viele Minderjährige gingen gar nicht mehr zur Schule; ohne Bildung, ohne Mittel, ohne jeden Halt bekämen sie oft schon mit 15 ihr erstes Kind. "Und wenn nichts mehr da ist, geben sie dem Säugling Coca-Cola in der Babyflasche", erzählte der Zentrumspolitiker. (Stefan Brändle aus Paris, 8.4.2024)