Bringt die Globalisierung die Kulturen einander näher oder treibt sie diese auseinander? Darüber sind sich Forschende seit Jahrzehnten uneins. Eine aktuelle Studie, die am Dienstag im Fachblatt "Nature Communications" veröffentlicht wurde, legt nun aber nahe, dass eher Letzteres der Fall sein könnte: Insbesondere bei der Einstellung zu Toleranz und Selbstentfaltung seien die verschiedenen Weltregionen in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend auseinandergedriftet.

Der größte Unterschied zeigt sich, wenn es um individuelle Freiheiten wie Homosexualität, Scheidung oder Sterbehilfe geht. Westliche Industrienationen mit hohem Einkommen, wo die Toleranz gegenüber diesen Fragen immer weiter gestiegen ist, hätten sich im Laufe der Zeit immer stärker von den Wertvorstellungen der anderen Weltregionen entfernt, heißt es in der Studie.

Westliche Industrienationen sind in den letzten Jahrzehnten tendenziell toleranter geworden. In vielen anderen Staaten geht diese Entwicklung langsamer voran. In Thailand (Bild) sind gleichgeschlechtliche Ehen seit März diesen Jahres möglich.
IMAGO/Christoph Hardt

400.000 Menschen befragt

Dazu haben die Forschenden der Universität Chicago die Antworten von 400.000 Befragten in 76 Ländern ausgewertet, die im Rahmen des World Values Survey zwischen 1981 und 2022 gesammelt wurden. Bei dieser Wertestudie wurden die kulturellen Unterschiede zwischen 40 Einstellungen ermittelt, die mit Offenheit, Gehorsam und Glauben zusammenhängen. Während emanzipatorische Werte in reichen westlichen Ländern schnell an Bedeutung gewannen, nimmt ihre Verbreitung in Afrika und Asien nur langsam zu oder stagniert.

Deutlich wird dies etwa am Beispiel Australiens und Pakistans. 1981 hielten 39 Prozent der Menschen in Australien und 32 Prozent der Menschen in Pakistan Gehorsam für einen wichtigen Wert in der Kindeserziehung. Bis 2021 fiel der Anteil in Australien auf 18 Prozent, während er in Pakistan auf 49 Prozent stieg. In Hongkong und Kanada stieg der Wohlstand zwischen 2000 und 2020 ähnlich hoch, doch die Akzeptanz von Homosexualität hat in Kanada schneller zugenommen.

Kulturelle Lager

Das steht im Gegensatz zu vielen Modernisierungstheorien, die besagen, dass sich Kulturen mit zunehmendem Wohlstand und Globalisierung in Richtung einer "universellen Zivilisation" mit liberal-individualistischen Werten bewegten, wie sie für westliche Demokratien typisch seien.

Neben der Kluft zwischen westlichen und nichtwestlichen Gesellschaften beobachteten die Wissenschafter noch einen zweiten Trend: Die Werte gleichen sich innerhalb der Weltregionen zunehmend an. So haben sich kulturelle Lager in Asien, Afrika, dem Nahen Osten und Lateinamerika mit jeweils eigenen Wertvorstellungen geformt.

Gleiche Richtung, aber langsamer

"Grundsätzlich ist die Studie seriös und entspricht hohen wissenschaftlichen Standards", sagt Christian Welzel, Leiter des Zentrums für Demokratieforschung an der Leuphana-Universität Lüneburg, der an der Studie nicht beteiligt war. Auch er kann aus seiner eigenen Forschung bestätigen, dass es eine leichte Divergenz in Werteorientierungen zwischen den Kulturzonen der Welt gebe.

Die Autoren der neuen Studie würden die Tendenz aber stark überzeichnen. Denn die Werteentwicklung geht in allen Weltregionen in dieselbe Richtung – "nämlich hin zu stärkerer Säkularisierung und Emanzipation", sagt Welzel. Allerdings passiere das in unterschiedlichen Geschwindigkeiten.

Wie schnell der Wertewandel passiere, hänge wiederum davon ab, ob die Tradition der jeweiligen Gesellschaften kollektivistisch oder eher individualistisch geprägt sei – in letzterem Fall schreite der Wandel schneller voran. Hier gebe es etwa große Unterschiede zwischen Islam und Protestantismus, wobei Letzterer eher auf das Individuum fokussiert sei. "Der Unterton der Studie hingegen, dass die Weltkulturen sich in gegensätzliche Richtungen bewegen würden, ist irreführend", sagt Welzel.

Keine schnellen Schlüsse

Vor zu schnellen Schlüssen warnen auch andere Fachleute. Laut Roland Verwiebe, Professor für Sozialstrukturanalyse an der Universität Potsdam, sei die Studie zwar methodisch gut gemacht. Er stellt aber die Frage in den Raum, inwiefern die Umfragedaten zwischen den Nationen vergleichbar sind. Anders ausgedrückt: Die Bedingungen, unter denen die Umfragen durchgeführt wurde, dürften in Deutschland, Ägypten und Ruanda sehr unterschiedlich gewesen sein. Dazu kommt, dass einige der gemessenen Variablen wohl kulturell sehr unterschiedlich konnotiert sind.

Die Sozialforscherin Constanze Beierlein von der Hochschule Hamm-Lippstadt wiederum kritisiert, dass die Studie strenggenommen keine Werte gemessen habe, sondern eher Einstellungen und Verhaltensabsichten. Werte können sich allerdings vom konkreten Verhalten unterscheiden, sagt Beierlein. Sie würden häufig als Leitprinzipien für das eigene Leben definiert, als Überzeugungen bezüglich wichtiger, situationsübergreifender Ziele. Dieser werden in der Psychologie grundsätzlich als stabiler angesehen als Einstellungen. (Philip Pramer, 9.4.2024)