Bereits bei der Entdeckung von Ötzi am 19. September 1991 im geschmolzenen Eis des Tisenjochs in den Ötztaler Alpen stachen sie ins Auge: zahlreiche verblasste Tätowierungen, die auf der Haut der uralten Gletscherleiche zu sehen waren. Der Mann wurde nur 46 Jahre alt. Nach detaillierten Analysen im Jahr 2015 fanden sich insgesamt 61 Tattoos: einfache schwarze Striche und Kreuze; angebracht zumeist an Gelenken, an der Wirbelsäule, an den Waden, einem Handgelenk und auf dem Brustkorb. (Eintätowierte Namen kamen nicht zuletzt deshalb nicht infrage, weil die Schrift damals noch nicht erfunden war.)

Vermutlich haben ihm all diese Stellen, an denen sich die Tattoos fanden, Schmerzen verursacht. Gründe dürften Gelenksabnutzungen, Bandscheibenprobleme und Gallensteine gewesen sein. Was Fachleuten zudem auffiel: Die meisten Hautzeichnungen liegen auf den sogenannten Körpermeridianen, die auch heute noch in der Akupunktur zur Schmerzlinderung benutzt werden. Damit gelten Ötzis Hautzeichnungen als der weltweit älteste bekannte therapeutische Einsatz von Tätowierungen.

Nach Veröffentlichung dieser Studie ließ sich die US-Künstlerin Nicole (Cole) Wilson, die schon als Schülerin von Ötzi fasziniert war, für ein Kunstprojekt alle 61 Tätowierungen des Mannes aus dem Eis auf ihrem eigenen Körper an den richtigen Stellen nachstechen – allerdings nicht für immer. Als "Farbe" verwendete sie ihr eigenes Blut, was dazu führte, dass die roten Markierungen langsam wieder verblassten.

Experimentelle Archäologie

Die Ötzi-Forschung ging von Anfang an davon aus, dass sich Ötzi die geradlinigen Tätowiermale mit der Klinge eines Feuersteins (Silex) in die Haut einritzen und dann mit Ruß einreiben ließ – oder sich selbst beibrachte. Aber war das tatsächlich die Methode, die damals in der Kupfersteinzeit zur Anwendung kam?

Einigen Experten ließ die Frage keine Ruhe. Zu ihnen gehören der US-Archäologe und Tattoo-Historiker Aaron Deter-Wolf (Tennessee Division of Archaeology) und Danny Riday, ein neuseeländischer Tätowierkünstler, der in seinem Studio The Temple in Tamahere bei Hamilton klassisches Tätowieren ohne elektrische Tätowiermaschinen betreibt. Unter anderem hat er auch die Venus von Willendorf im Programm. Zum Team gehörten auch Benoit Robitaille und Aurélien Burlot sowie Maya Sialuk Jacobsen, eine Inuit-Tattoo-Künstlerin.

Um experimentell zu klären, wie Ötzi wirklich zu seinen Peckerln gekommen ist, wählten sie den Selbstversuch – ein Unterfangen, das prompt mit dem Experimental Archaeology Award ausgezeichnet wurde. Im Jahr 2022 ließ sich Riday unter Verwendung von acht verschiedenen selbsthergestellten Werkzeugen in vier verschiedenen Tätowiertechniken ein immer gleiches Motiv auf sein Bein tätowieren, das für die Untersuchung zum Experimentierfeld wurde. Die folgenden Werkzeuge und Techniken kamen dabei zur Anwendung:

Tätowierungen Ötzi
Die acht verschiedenen Applikationsmethoden (von links oben nach rechts unten) kurz nach Anbringung auf dem Bein von Danny Riday (links) und rechts nach sechs Monaten.
Danny Ridley, in: Deter-Wolf, Ridley et. al., EXARC Journal 2022

Die Anbringung der Tätowierungen wurde für einen 2022 erschienenen und peer-reviewten Fachartikel im Fachblatt für Experimentelle Archäologie ("Exarc Journal") mit zahlreichen Fotos genauestens dokumentiert. Die Heilung nach sechs Monaten wurde ebenfalls festgehalten.

Ritzen, klopfen oder stechen?

Nach einem Jahr verglichen die Fachleute extrem vergrößerte Bilder von Ridays Tätowierungen mit ultravioletten und hochauflösenden digitalen Bildern der Tätowierungen des Eismanns. Wie das Team vor kurzem im "European Journal of Archaeology" berichtete, deuten die Ergebnisse darauf hin, dass Ötzis Tätowierungen durch manuelles Stechen mit einem spitzen Werkzeug entstanden sind, wahrscheinlich mit einer Knochen- oder Kupferahle.

Mystery Of Ötzi the Iceman's Tattoos Finally Solved By Scientists
Discovery Future

Bei Ötzis Tattoos fiel zudem auf, dass sie ein bis drei Millimeter breit sind und eine Tüpfelung, abgerundete Enden und einen unregelmäßigen Pigmentaustritt entlang der Ränder aufweisen – alles Merkmale des Stechens von Hand. Ein anderer Hinweis, der dafür spräche: Diese Tätowierungstechnik sei spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts in nichtindustrialisierten Kulturen in weiten Teilen der Welt bekannt, darunter auch in Ötzis Heimatregion Mitteleuropa.

War die Ahle mit dabei?

Die Autoren räumen zwar ein, dass sich das Experiment auf menschlicher Haut nur bedingt mit dem Zustand von Ötzi vergleichen lässt, schließlich ist der Eismann 5.200 Jahre älter, mumifiziert und verfügt über keine Epidermis mehr. Dennoch sind sie davon überzeugt, dass die bisherigen Annahmen zu den Tätowierungen von Ötzi falsch waren: Ein Ritzen mit Feuerstein – wie man rund 30 Jahre lang annahm – schließen sie definitiv aus.

Grundsätzlich hoffen sie, mit ihrem experimentalarchäologischen Projekt dazu beizutragen, das bisherige Verständnis alter Tätowiermethoden zu erweitern und künftige archäologische Werkzeugfunde auch auf ihre Verwendung als Tätowierinstrument zu überdenken. Das beginnt auch gleich mit Ötzis Handwerkszeug: Eine Knochenahle, die unter seinen Habseligkeiten gefunden wurde, weist eine Spitze auf, die möglicherweise scharf genug ist, um sie zum Tätowieren zu verwenden. Das trifft auch auf eine Geweihspitze aus seinem Köcher zu. Diese Instrumente müssen allerdings noch auf tätowierungsbedingte Schäden oder Pigmentreste untersucht werden. (Klaus Taschwer, 10.4.2024)