Die Schweizer Klimaseniorinnen feierten am Dienstag ihren Sieg vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.
Die Schweizer Klimaseniorinnen feierten am Dienstag ihren Sieg vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.
EPA/RONALD WITTEK

Eines ist schon jetzt klar: Der Erfolg der Schweizer Klimaseniorinnen am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wird eine Flut an neuen Klimaklagen auslösen und Auswirkungen für ganz Europa haben – auch für Österreich.

Das Straßburger Höchstgericht hat in seinem Urteil erstmals explizit klargestellt, dass die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) Staaten dazu verpflichtet, die Bevölkerung vor der Klimakrise zu schützen. Zudem müssen Umweltorganisationen laut der Entscheidung die Möglichkeit haben, dieses Menschenrecht durchzusetzen. Für Österreich ist das Urteil gleich aus mehreren Gründen besonders relevant.

1. Einfluss aufs Verfassungsrecht

Österreich hat keinen eigenen modernen Grundrechtskatalog. Stattdessen wurde in den 1960er-Jahren die Europäische Menschenrechtskonvention in die nationale österreichische Rechtsordnung integriert – und zwar als Verfassungsgesetz.

Auch die Entscheidungen aus Straßburg sind für Österreich zentral. Der Grund: Menschenrechte sind eher abstrakt formuliert, etwa als Recht auf Leben oder als Recht auf Familien- und Privatleben. Mit konkreten Inhalten werden diese Rechte erst durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs für Menschenrechte gefüllt.

Der Verfassungsgerichtshof orientiert sich stark an dieser Rechtsprechung, und auch Behörden und Gerichte müssen das tun. Ein Beispiel: Trifft der Staat eine Entscheidung darüber, ob ein Kraftwerk oder eine neue Landebahn gebaut werden darf, wiegt er unterschiedliche Interessen miteinander ab. Dabei müsste künftig das Grundrecht auf Klimaschutz stärker berücksichtigt werden. In der einen oder anderen Entscheidung könnte dies das Zünglein an der Waage sein.

2. Zugang zu Gerichten

Der zweite Grund hat etwas mit dem Zugang zu Gerichten zu tun: In Österreich beklagen Klimaschützerinnen und Klimaschützer seit Jahren ein "rechtsstaatliches Defizit". Es gebe auf dem Papier zwar Rechte, diese Rechte könnten in Sachen Klimaschutz aber kaum gerichtlich durchgesetzt werden. In den vergangenen Jahren sind viele Klimaklagen in Österreich gescheitert.

Die Ursache dafür sind die hohen formalen Hürden der Anträge beim Verfassungsgerichtshof (VfGH). Der VfGH verlangt, dass Antragsteller individuell und unmittelbar von einer verfassungswidrigen staatlichen Maßnahme betroffen sind. Im Fall der Klimakrise ist dieser Beweis schwieriger zu erbringen als zum Beispiel im Fall von Polizeigewalt oder einem Gesetz, das die Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren verbietet.

Aufgrund der EGMR-Entscheidung könnte sich der Zugang zu Gerichten nun auch in Klimafragen verbessern. Das Urteil erkennt nämlich an, dass Umweltorganisationen stellvertretend für betroffene Menschen vor den Gerichtshof in Straßburg ziehen können. Nimmt Österreich die aktuelle Entscheidung ernst, müssten NGOs hierzulande einen besseren Zugang zu Gerichten bekommen.

3. Klimaschutzgesetz?

In Österreich gibt es derzeit keine Möglichkeit, gegen die Untätigkeit des Gesetzgebers vor Gericht zu ziehen. Anders formuliert: Klimakläger können zwar verfassungswidrige Gesetze, die bereits gelten, zu Fall bringen. Sie können das Parlament jedoch nicht direkt dazu verpflichten, ein neues, verschärftes Klimaschutzgesetz zu erlassen.

Auch durch das aktuelle EGMR-Urteil wird sich das nicht ändern, Österreich könnte aber beim EGMR geklagt werden und so beim Klimaschutzgesetz unter Zugzwang kommen. Schließlich hat der Gerichtshof in der Entscheidung gegen die Schweiz kritisiert, dass das Land keine geeigneten gesetzlichen und behördlichen Klimaschutzmaßnahmen ergriffen hat – und auch in Österreich gibt es derzeit kein wirksames Klimaschutzgesetz.

Ob die Entscheidung gegen die Schweiz in Sachen Klimaschutzgesetz direkt auf Österreich übertragbar ist, ist unter Juristinnen und Juristen umstritten. Europarechtler Walter Obwexer von der Uni Innsbruck erklärte am Mittwoch im Ö1-"Morgenjournal", dass es Kläger aus Österreich schwieriger hätten. Schließlich sei Österreich – anders als die Schweiz – ohnehin an die EU-Klimaziele gebunden.

Daniel Ennöckl, Professor für öffentliches Recht an der Boku Wien, sieht das anders. Die Schweiz und Österreich seien hier "durchaus vergleichbar". Der EGMR verlange in seiner Entscheidung, dass konkrete gesetzliche Maßnahmen gesetzt werden. Derartige Vorgaben gebe es in Österreich derzeit nicht. Auch den Nationalen Energie- und Klimaplan (NEKP) hat die Regierung noch nicht an die EU übermittelt. Zwar gibt es einen Entwurf, aber selbst der würde die Vorgaben des EGMR wohl nicht erfüllen, ergänzt Florian Stangl, Rechtsanwalt für Umweltrecht. Abgesehen davon ist Österreich derzeit deutlich unter dem Reduktionspfad, um die Einsparungsziele der EU zu erreichen.

Und was sagt die Regierung?

Aus dem Klimaschutzministerium unter Leonore Gewessler (Grüne) heißt es auf Anfrage des STANDARD, dass man das Urteil des EGMR "detailliert prüfen" werde. Es handle sich "jedenfalls um eine wesentliche und richtungsweisende Entscheidung", die auch auf Österreich Auswirkungen habe. Erfolgreiche Klimaschutzpolitik sollte danach streben, dass diese Klagen nicht notwendig seien, das schließe wirksame Gesetze mit ein, heißt es. Das Klimaministerium weist darauf hin, dass es in Österreich – im Gegensatz zur Schweiz – aufgrund der EU-Vorgaben schon heute verpflichtende Ziele zur Reduktion der Emissionen gibt.

Auch aus dem Verfassungsministerium unter Karoline Edtstadler (ÖVP) heißt es auf Anfrage, dass man die Argumente des EGMR genau prüfen werde, für Österreich entstehe aus dem Urteil aber "keine unmittelbare Verpflichtung". Österreich habe in der Vergangenheit "zahlreiche Maßnahmen zum Klimaschutz gesetzt" und gehe im Gegensatz zur Schweiz den EU-Kurs zum Klimaschutz mit eindeutigen Klimazielen konsequent mit. (Jakob Pflügl, 10.4.2024)