Die Tage / sind voller zerschlagener Horizonte, / zerschlagen! / In der Weglaufsaison / wenn sich die Kapitulation tief im Koffer versteckt ...", schreibt Tahir Hamut Izgil über sein Leben in der Emigration. Er ist Dichter und gilt als einer der wichtigsten Vertreter der Avantgarde uigurischer Sprache.

Am Ende gelingt die Flucht mit der Familie: Tahir Hamut Izgil.
Hanser / Asena Izgil

Im Jahr 2017 floh er mit seiner Frau Marhaba und seinen beiden Töchtern in die USA. Damit sei er unter den vielen uigurischen Schriftstellern wohl der einzige, dem die Flucht gelungen sei, stellt sein literarischer Übersetzer, Joshua L. Freeman, fest. Die autonome uigurische Region im Westen Chinas bezeichnet er als "ein gigantisches Gefängnis". Es sei unmöglich, das Land zu verlassen. Tahir bekommt dies bereits zu spüren, als er 1996 in der Türkei studieren will. Für den Versuch, die Grenze zu Kirgisistan zu passieren, wird er mit drei Jahren Gefängnis und Umerziehungslager bestraft. Nach seiner Entlassung baut er sich in Urumtschi, der Hauptstadt der Uigurenregion Xinjiang, eine Existenz als Filmregisseur außerhalb des staatlichen Systems auf. Er gründet eine Familie und kauft eine Wohnung.

Diskriminierung, Repressionen

Die Uiguren bevölkern den östlichsten Teil eines muslimischen turksprachigen Kulturraums, der sich im Westen bis zum Balkan erstreckt, und wurden im Zuge der mandschurischen Eroberungen Mitte des 18. Jahrhunderts dem chinesischen Reich einverleibt. Sie gehören zu den 55 anerkannten Minderheiten Chinas und werden seit Jahrzehnten diskriminiert.

Als es 2009 nach einem Lynchmord an ihnen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit den Han kommt, nehmen die Repressionen dramatisch zu. In seinem Buch schildert Tahir die unentwegten Schikanen und Bedrohungen, denen er und seine Familie ausgesetzt sind. 2016 veranstaltet er mit 16 Schriftstellern, Übersetzern und Musikern das erste Lyrikertreffen.

Das letzte Treffen

Der Dichter Perhat Tursun stellt besorgt fest, dass die Polizei vor der Tür stehe, und tatsächlich unterbrechen die Polizisten, die sich im Nebenraum niederlassen, immer wieder die Gespräche, um Ausweise zu kontrollieren. So wird dieses Treffen zu ihrem letzten.

Von Eli, dem Buchhändler, der einen Universitätsabschluss in uigurischer Literatur besitzt und selbst Dichter ist, erfährt Tahir, dass es keine uigurischen Bücher mehr gibt. Selbst bereits genehmigte Bücher werden im Zuge des Blick-zurück-Projekts der Regionalregierung erneut auf ethnisch-separatistische und religiös-extremistische Stellen durchgesehen. So werden Beamte sogar wegen Büchern verhaftet, die seit zehn Jahren im Unterricht Verwendung finden. Dennoch zögert Tahir zu fliehen. Die Vorstellung, in einem anderen Land neu anzufangen, erschreckt ihn, vor allem als Dichter.

Da erhält er an einem Sonntag während eines Wochenendausflugs mit seiner Familie einen Anruf, er habe sich mit seiner Frau auf der Polizeiwache einzufinden. Man führt sie in den Keller, wo ihnen ihre Fingerabdrücke und Blutproben genommen werden sowie Stimmerkennungsaufzeichnungen und Rundumscans ihrer Köpfe erfolgen.

Tahir Hamut Izgil, "In Erwartung meiner nächtlichen Verhaftung. Uigurische Notizen". Aus dem Englischen von Ulrike Kretschmer. € 25,70 / 272 Seiten. Hanser, 2024
Hanser

Als sie dabei auch den "Tigerstuhl" für Folter und die Zellen sehen, ist Marhaba überzeugt: "Wir müssen das Land verlassen." Was nun beginnt, ist eine Odyssee. Während ein Freund aus den USA sie ebenfalls zur Emigration drängt, erleben sie einen ständigen Wechsel aus Hoffnung und Enttäuschung. Mit viel Aufwand gelingt es ihnen, Pässe für die Familie zu bekommen. Aber das amerikanische Visum wird ihnen verwehrt. Erst eine Gruppenreise durch Europa bringt ihnen die dafür nötigen ausländischen Stempel in die Pässe. Kaum aber haben sie die ersehnten Visa und auf einer Amerikareise beim Treffen mit Freunden ihre Möglichkeiten sondiert, da müssen sie, zurück in Urumtschi, ihre Pässe wieder abgeben. Wer schon einmal im Ausland war, darf keinen Pass mehr haben.

Am Ende gelingt Tahir und seiner Familie die Flucht. Was ihnen aber verwehrt bleibt, ist der Abschied. Nicht einmal ihren Eltern können sie Lebewohl sagen. Und die Schuldgefühle, ihr Land im Stich gelassen zu haben und andere in Gefahr gebracht zu haben, bleiben auch. Eine erneute Welle der Masseninternierungen bringt Verwandte und Bekannte, die mit ihnen in Kontakt standen, in Lager.

Emotionale Distanz

Aus Angst, weiteren zu schaden, bricht Tahir alle Brücken nach China ab. "Wir werden diese geliebten Menschen nur mehr in unseren Träumen wiedersehen." Mit dieser Feststellung schließt er seine Schilderungen, die sich durch nüchterne Sachlichkeit auszeichnen.

Da fällt kein wütendes Wort gegenüber der chinesischen Regierung oder jenen Uiguren, die mit ihrer Arbeit in der Verwaltung das System mittragen. Selbst über Verrat berichtet er ohne Anklage und ohne Empörung. Diese emotionale Distanz verleiht seinem Buch eine enorme Kraft. (Ruth Renée Reif, 13.4.2024)