Eigentlich wollte der 54-jährige italienische Schriftsteller Antonio Scurati bei seiner Rede beziehungsweise in seinem Monolog – zu halten am italienischen Nationalfeiertag an diesem Donnerstag im italienischen TV-Sender Rai – an den Sozialistenführer Giacomo Matteotti erinnern. Dieser war vor hundert Jahren, am 10. Juni 1924, von einem faschistischen Schlägertrupp ermordet worden. Auch andere Gräueltaten, die die italienischen Faschisten unter Diktator Benito Mussolini allein oder auch in Komplizenschaft mit den Schergen des verbündeten Nazideutschlands begangen hatten, wollte er erwähnen.

Giorgia Meloni, eine
Giorgia Meloni, eine "Anti-Antifaschistin"?
AFP/KENZO TRIBOUILLARD

In seinem Text hätte Scurati auch nicht mit Kritik an der heutigen Rechtsregierung von Giorgia Meloni gespart. Er hätte der Ministerpräsidentin und Chefin der postfaschistischen Fratelli d'Italia vorgeworfen, sich zwar von den Verbrechen des Faschismus, nicht aber von der Ideologie als solcher distanziert zu haben. Stattdessen versuche die Rechtsregierung, "die Geschichte umzuschreiben".

Doch nachdem die Programmverantwortlichen des italienischen öffentlich-rechtlichen Senders den Text gelesen hatten, wurde Scurati umgehend wieder ausgeladen – mit der ebenso lächerlich wie perfide anmutenden Begründung, er habe für seinen TV-Auftritt überzogene Honorarforderungen gestellt. In Wahrheit hatten sich der Autor und Rai längst auf die in solchen Fällen übliche Summe von vergleichsweise moderaten 1.500 Euro geeinigt.

"Zensur und Gewalt"

In der Opposition löste die kurzfristige Ausladung Scuratis einen Sturm der Entrüstung aus. Elly Schlein, Chefin des sozialdemokratischen Partito Democratico, warf der Rechtsregierung "Zensur und Gewalt" vor; Regierungschefin Meloni wolle die Rai zu einem "Megafon der Regierung umfunktionieren". Scuratis Schriftstellerkollege Roberto Saviano, der bei Rai ebenfalls schon mundtot gemacht wurde, warnte, dass Zensur beim Service public alle Bürgerinnen und Bürger betreffe, nicht nur einzelne unbequeme Autorinnen und Autoren.

Allerdings: Für Meloni – respektive für die Rai-Führung – ging der Schuss gewaltig nach hinten los. Denn inzwischen kennt ganz Italien den Text. Die Rai-Moderatorin, in deren Sendung Scurati seine Ansprache hätte halten sollen, verlas den Monolog an seiner Stelle am vergangenen Wochenende in voller Länge; dasselbe taten der Vizechef der bürgerlichen Tageszeitung Corriere della Sera zusammen mit dem Liedermacher Roberto Vecchioni auf dem Privatsender La7. In den sozialen Medien ging Scuratis Text viral, und zahlreiche Bürgermeister in ganz Italien kündigten an, den Monolog am 25. April selbst und höchstpersönlich auf den Plätzen ihrer Gemeinden vorzutragen.

Elly Schlein, Chefin des sozialdemokratischen Partito Democratico, wirft der Regierung
Elly Schlein, Chefin des sozialdemokratischen Partito Democratico, wirft der Regierung "Zensur und Gewalt" vor.
EPA/ALESSANDRO DI MEO

Am Ende versuchte die hart kritisierte Meloni einen Befreiungsschlag, indem sie den Monolog ebenfalls auf ihrer Facebook-Seite publizierte. Ihre etwas larmoyant anmutende Begründung: Sie, die ein Leben lang selbst zensuriert worden sei, sei die Letzte, die andere zensurieren wolle.

Trennung statt Einheit

Am 25. April feiert Italien alljährlich die Befreiung des Landes vom Nazifaschismus durch die Partisanen und die Alliierten. Dass Postfaschistin Meloni damit ihre liebe Mühe hat, liegt in der Natur der Sache. Die italienische Regierungschefin wünscht sich zwar – wie auch die meisten ihrer Parteifreunde – die Diktatur nicht zurück. Aber die von ihr mitgegründete Partei Fratelli d'Italia hat ihre ideologischen Wurzeln nun einmal in dem von Duce-Anhängern nach dem Krieg gegründeten Movimento Sociale Italiano (MSI). Meloni hat ihre gesamte politische Karriere in diesem Dunstkreis verbracht. Und deshalb bringt sie das Wort "Antifaschismus" einfach nicht über ihre Lippen. Das wurde ihr schon vor einem Jahr, bei ihrem ersten "Tag der Befreiung" als Regierungschefin, von der Opposition angekreidet.

Letztlich ist der 25. April in Italien 79 Jahre nach Kriegsende eine "festa divisiva" geblieben – ein Feiertag, der das Land mehr teilt, statt es zu einen. Das liegt in erster Linie daran, dass die Rechte die jüngere Geschichte des eigenen Landes nie wirklich aufgearbeitet hat und die Verbrechen des Mussolini-Regimes bis heute verharmlost oder den deutschen Verbündeten zuschreibt. Auch in der Pflichtschule wird der Faschismus nur am Rande behandelt. Melonis psychologisches Problem besteht darin, dass sie von – tatsächlichen oder auch nur selbsternannten – Antifaschisten immer als Faschistin beschimpft wurde und wird. Der Antifaschismus ist deshalb für sie ein rotes Tuch. Das macht sie zwar nicht zur Faschistin, aber zur "Anti-Antifaschistin", wie der Corriere della Sera unlängst schrieb. (Dominik Straub aus Rom, 25.4.2024)