Vier Tage lang tagten die Verantwortlichen im Genfer Vorort Petit-Saconnex, sie diskutierten und debattierten, am Ende verkündete die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC) in einer abendlichen Pressemitteilung das Ergebnis: Man werde die Vorwürfe gegen das Russische Rote Kreuz untersuchen. Das Wichtigste aber stand nicht in der Nachricht: Das Russische Rote Kreuz darf weiterhin Mitglied der Rotkreuz-Dachorganisation bleiben. Und das, obwohl die Hilfsorganisation laut Recherchen des STANDARD und eines internationalen Journalistenteams den Krieg gegen die Ukraine unterstützt und sogar bei der militärischen Ausbildung von Kindern hilft.

Das Russische Rote Kreuz steht wegen seiner Nähe zu Putin in der Kritik.
Mart Nigola / Delfi Estonia

Eine "Governing Board Oversight Group", der der Schweizer Manuel Bessler vorstehen soll, werde in den nächsten vier Monaten die gegen das Russische Rote Kreuz (RRK) erhobenen Vorwürfe "bewerten, identifizieren, überwachen und korrektive Maßnahmen empfehlen", erklärte die IFRC am Donnerstagabend – und betonte die Grundprinzipien des Roten Kreuzes: "Neutralität, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit".

"Sieg, Sieg, Sieg an allen Fronten"

Wie sehr das Russische Rote Kreuz gegen diese Grundsätze verstößt, zeigten die sogenannten Kreml-Leaks-Recherchen, an denen DER STANDARD beteiligt war. So unterstützt die Hilfsorganisation die militärische Ausbildung von Kindern und Jugendlichen, ehrt Rüstungsfabriken, mehrere Vorstandsmitglieder loben den Angriff auf die Ukraine. Eine RRK-Vorständin wünschte den Soldaten "Sieg, Sieg, Sieg an allen Fronten".

Der Chef des Russischen Roten Kreuzes war selbst jahrelang Mitglied der Organisation Allrussische Volksfront. Diese sammelt Spenden für Soldaten an der Front und besitzt die Urheberrechte an dem allgegenwärtigen Z – jenem Symbol, mit dem Russland seine Panzer markiert und das seither wie kein anderes für die Unterstützung des Angriffs auf die Ukraine steht.

Heftige Kritik aus der Ukraine

Weil der Chef des Belarussischen Roten Kreuzes ebendieses Z auf seiner Kleidung getragen und die Verschleppung ukrainischer Kinder unterstützt hatte, wurde seine Organisation 2023 aus der IFRC ausgeschlossen. Die russische Schwesterorganisation aber darf bleiben, obwohl die Vorwürfe mindestens genauso schwer wiegen. "Die IFRC versucht so zu tun, als ob sie sich kümmert, aber in Wirklichkeit tut sie alles, um den Ruf des Russischen Roten Kreuzes zu schützen", sagte der ukrainische Menschenrechtsbeauftragte Dmytro Lubinez in einer ersten Reaktion auf die Entscheidung. Wieso das Russische Rote Kreuz anders als seine belarussische Schwesterorganisation behandelt wird, ließ die IFRC auch auf Nachfrage offen.

Eigentlich hat die IFRC ein Gremium für Vorwürfe gegen nationale Rotkreuz-Gesellschaften: das "Compliance and Mediation Committee". Es hat schon die Vorwürfe gegen das Belarussische Rote Kreuz untersucht. Dennoch entschied sich die IFRC im Fall des Russischen Roten Kreuzes, ein anderes Gremium einzusetzen. In den Rotkreuz-Statuten ist es nicht vorgesehen.

Das Pikante daran: Pawel Sawtschuk, der Chef des Russischen Roten Kreuzes, sitzt selbst in jenem IFRC-Gremium, das dieses eigenartige Vorgehen beschlossen hat. Sawtschuk wurde nach der russischen Invasion, nach dem Massaker von Butscha, hineingewählt. "Während die ganze Welt über die Gräueltaten der russischen Armee diskutierte, wählten die Mitglieder der Internationalen Föderation des Roten Kreuzes den Chef des Russischen Roten Kreuzes in das Gremium", kritisierte der ukrainische Menschenrechtsbeauftragte Lubinez jüngst im STANDARD-Interview. Die Ukraine hat Sawtschuk längst auf ihre Sanktionsliste gesetzt und drängt andere Regierungen nachzuziehen.

Sawtschuk war diese Woche auch in der Schweiz bei der Sitzung des IFRC. An jedem Sitzungstag, von Montag bis Donnerstag, kam er in Genf zum IFRC-Hauptsitz in der Chemin des Crêts 17, marschierte vorbei an den in die Wand eingelassenen IFRC-Prinzipien "Neutralität" und "Unabhängigkeit". Fragen von Journalisten wollte er nicht beantworten.

Durch den fragwürdigen Umgang der IFRC mit ihrem russischen Mitglied wächst der Druck auf die Organisation. Die IFRC ist spendenfinanziert, die großen Geldgeber sind die Bill & Melinda Gates Foundation, die Vereinten Nationen, aber vor allem: die US-Regierung, die EU-Kommission und etliche europäische Regierungen, darunter jene der Schweiz und Deutschlands.

Russische "Jugendarmee"

Sie alle dürften Fragen an die IFRC haben. Denn das Russische Rote Kreuz kooperiert nach STANDARD-Recherchen mit der russischen "Jugendarmee", einer paramilitärische Organisation, die offiziell vom russischen Verteidigungsministerium unterstützt wird. Sie ist seit 2022 von der Europäischen Union sanktioniert. Erst Anfang dieses Jahres vereinbarte das Russische Rote Kreuz eine Kooperation mit dem Jugendbildungszentrum Artek. Artek wird von Konstantin Fedorenko geleitet, der laut EU auch militärische Lager für Kinder organisiert, die illegal auf die Halbinsel Krim deportiert wurden. Sowohl die USA als auch die EU haben ihn deshalb sanktioniert.

"Die Position der IFRC ist zynisch", sagt der ukrainische Menschenrechtsbeauftrage Lubinez, "sie verschließt die Augen vor der Tatsache, dass das Russische Rote Kreuz mit sanktionierten Personen und Organisationen zusammenarbeitet, die bei der Entführung ukrainischer Kinder helfen." Er erhebt schwere Vorwürfe gegen die Rotkreuz-Organisation: "Die IFRC ist zu einer Fürsprecherin des Russischen Roten Kreuzes geworden – und damit für die russische Aggression gegen die Ukraine." (Frederik Obermaier, 29.4.2024)