Praterbrücke in Wien
Beim Forschungsprojekt "Reverse Imagining Vienna" wird anhand von Bauwerken wie der Praterbrücke über den Umgang mit menschengemachten Materialien spekuliert.
Asfinag Archiv

"Dann ist der Moment gekommen: Die Brücke wird als Hologramm wiedererweckt, sie spannt sich über das Sumpfgebiet, wo früher Wassermassen flossen, die elf sehen die Brücke vor sich und verstehen trotzdem nichts, so weit entfernt von ihnen, so abstrakt ist das Konzept dieser Brücke für sie." So stellt sich der Autor Jakob Pretterhofer eine dystopische touristische "Bootstour Donau-Obelisk A23" in 500 Jahren an der Stelle vor, wo heute noch die Praterbrücke als Teil der Südosttangente A23 über die Donau führt.

Er und acht weitere Schriftsteller und Schriftstellerinnen sowie zwölf Forschende haben sich für das von der Stadt Wien geförderte und am Zentrum Fokus Forschung der Universität für angewandte Kunst angesiedelte Projekt "Reverse Imagining Vienna" mit Zukunftsszenarien im Kontext von Nachhaltigkeit und der verbauten Umwelt auseinandergesetzt. Den Nährboden für die Spekulationen bildeten neun verbaute anthropogene Materialien, die in Bauwerken wie der Praterbrücke und einem 1848 errichteten Gründerzeithaus in Wien-Wieden zu finden sind. Im Falle der Brücke waren das Asphalt, Beton, Stahl und Granit, und beim Gebäude bildeten Ziegel, Glas, Plastik, Holz und Kalkstein die Ausgangsstoffe.

Ferne Vergangenheit und Zukunft

Zu jedem der Baustoffe erörterten umfassende Materialdossiers kulturhistorische und umweltwissenschaftliche Aspekte. Punktuell entnommene Proben ließen detaillierte Aufschlüsse über die Herkunft der Materialien zu. Für die Praterbrücke zeigten Dünnschliffe des Betons, dass der Sand darin aus der Donau stammt und der Kalkstein aus dem Steinbruchgebiet Mannersdorf am Leithagebirge. Nicht nur das: Der Kalkstein entstand laut Analyse aus Rotalgen, die vor 15 Millionen Jahren an den Küsten des Urmeers Paratethys lebten. Die beiden Projektleiter, die Bildhauer Christoph Weber und Nikolaus Eckhard, erfüllt das mit Ehrfurcht. "Das stellt eine geologische Verbindung zu den Lebewesen her, die Schalen gebildet haben, in denen wir heute leben", sagt Eckhard.

Gravierte Ziegelsteine, Kalksteine und Holz - die Materialien verbinden eine weit entfernte Vergangenheit mit einer weit entfernten Zukunft. 
Gravierte Ziegelsteine, Kalksteine und Holz – die Materialien verbinden eine weit entfernte Vergangenheit mit einer weit entfernten Zukunft.
Christoph Weber

Unter anderem aus diesem Wissen heraus ergaben sich vier Zeitanker, an denen entlang sich die Spekulationen orientierten – beginnend mit 2050 als Schlüsseljahr der Klimaziele. Die weiteren Zeithorizonte – 500, 12.000 und schließlich 15 Millionen Jahre in der Zukunft – wurden von markanten Wegpunkten der menschlichen Entwicklung in der Vergangenheit inspiriert und zeitlich "plus/minus ein paar Jahrtausende" in die Zukunft gespiegelt: Die Erfindung des Buchdrucks vor 500 Jahren, die Sesshaftwerdung des Menschen vor 12.000 Jahren und die Entstehung des erwähnten Kalksteins vor 15 Millionen Jahren.

Im Laufe des Projekts traten die Forschenden aus den Disziplinen Geologie, Physik, Ökologie, Stadtmorphologie, Verkehrswissenschaften sowie Evolutionsbiologie mit den Autorinnen und Autoren und den Bildhauern und Bildhauerinnen in Dialog und tauschten bei "Time Travel Meetings" ihre Fragestellungen aus – von Anthropozän bis Zeitreisen. Die tiefschürfende Beschäftigung mit den Materialien und dem gesellschaftlichen Stoffwechsel, von Extraktion über Kreislaufwirtschaft bis Emission, kommt nicht von ungefähr. 2020 überstieg der Bestand der von Menschen produzierten Masse auf der Erde erstmals den Bestand der Biomasse, wie eine in Nature erschienene israelische Studie errechnet hatte. Gut 90 Prozent dieser Masse sind Baumaterialien für Gebäude und Infrastruktur.

550 Gigatonnen Beton

Besonders stark ins Gewicht fällt Beton, dessen Masse sich von 1990 bis 2020 auf 550 Gigatonnen akkumulierte, was in etwa der Hälfte der lebenden Biomasse der Erde entspricht. Ganz zu schweigen von den ungefähr acht Prozent aller menschengemachten CO2-Emissionen, die die Produktion von Zement – einem wesentlichen Bestandteil von Beton – ausmacht. Weber und Eckhard möchten mit ihren Arbeiten auch das Bewusstsein dafür schärfen, welchen gewaltigen ökologischen Fußabdruck, um nicht zu sagen Fußtritt, der Baustoff dem Planeten verpasst: "Beton ist weltweit das am zweithäufigsten genutzte Material nach Wasser. Wir stellen uns die Frage, wie sehr es schon in unser Denken eingedrungen ist. Wie sehr unsere Vorstellungen von Wohnen und Mobilität, vom guten Leben, geprägt sind von einem fossilen System, das seine Verhärtung in Beton findet."

Ein Amalgam dessen, was sich für "Reverse Imagining Vienna" innerhalb von zwei Jahren an Gedanken, Visionen und Wissen angesammelt hat, haben die Künstler als abschließende Präsentation in verschiedenste Skulpturen fließen lassen. So etwa bezieht sich Weber in seinem Werk Besetzt auf das Szenario der Autorin Julia Grillmayr, in dem die Stahlbrücke in der Zukunft bewohnt ist. Ebenso fand darin ein Textsegment der Schriftstellerin Ann Cotten Eingang, das mit Schlagbuchstaben in eine Stahlplatte eingehämmert ist. Eckhard schuf eine Serie aus 100 gravierten Ziegelsteinen, die sich zum Beispiel der Frage stellt, "was wir (gegenwärtig oder in vielleicht 500 Jahren) der Donau anbieten können, um mit den Flussregulierungstätigkeiten der letzten 150 Jahre besser umzugehen".

Wien künftig "hin, hin, hin"?

Ob es die Donau in ferner Zukunft noch gibt oder ganz Wien in Zukunft "herrlich hin, hin, hin" ist, wie es Falco sagen würde, davon können sich Interessierte in den kommenden Wochen selbst überzeugen. Für die Dauer der Ausstellung gibt es beginnend mit 8. Mai jeden Mittwoch eine Lesung mit den Autorinnen und Autoren. Elias Hirschl geht in seinem Text davon aus, dass man in ein paar Millionen Jahren gar nicht mehr von der Donau sprechen kann, denn die hatte sich längst "aufgespalten in diverse Thronfolger, so wie die Urdonau vor fünfzehn Millionen Jahren ja auch keine wirkliche Donau war, so wie man im Grunde keinen einzigen genauen Zeitpunkt definieren konnte, an dem die Donau zur Donau wurde oder den Begriff Donau wieder verließ".

Ausstellung Reverse Imaging Vienna
Die Ausstellung "Reverse Imagining Vienna" wird von einem spannenden Rahmenprogramm wie Lesungen begleitet, in denen spekuliert und fabuliert werden darf.
Christoph Weber

Die Ergebnisse der zeit- und raumübergreifenden Installationen sind zusammen mit einer Publikation samt literarischer Texte noch bis 29. Mai als Teil der Klima-Biennale 2024 im Angewandte Interdisciplinary Lab (AIL) in Wien zu sehen. Wer selbst mit spekulieren will, kann das auch direkt mit den beiden Projektleitern tun, die im Rahmen der Langen Nacht der Forschung am 24. Mai selbst an Ort und Stelle sein werden. (Mario Wasserfaller, 8.5.2024)